[176] Petersburg, St. Auf einem der Dampfböte, welche regelmäßig die Verbindung zwischen Lübeck und der Hauptstadt des[176] russ. Kaiserreichs unterhalten, erreichten wir nach einer stürmischen Fahrt durch die Ostsee Kronstadt (s. d.), ließen hier unsere Pässe ordnen, und wählten unter den zwei Wegen, welche von da aus nach der glänzenden Metropole führen, den zu Wasser. Ein sechsrudriges, mit bärtigen, griechisch aufgeschürzten Matrosen bemanntes Boot nahm uns auf, und das stille Dahingleiten von hundert Schiffen und Booten aller Art, so wie das regere Leben an den Ufern, ließ die Nähe der wunderbaren Schöpfung Peter's des Großen ahnen, bis wohin man von Kronstadt aus 6½ M. zurückzulegen hat. Bald zeigen sich rechts am Ufer die Zaubergärten von Peterhof, weiterhin das kais. Lustschloß Oranienbaum, eine Menge Marinegebäude und Landhäuser, auf dem Flusse grüne Inseln, und fernhin am Horizonte blitzen einzelne Punkte durch das dämmernde Morgenlicht. Es sind die vergoldeten Spitzen und Kuppeln der 100 Kirchen und zahllosen Paläste von St. P. Plötzlich öffnet sich das weite Panaroma: eine unermeßliche Häusermasse, schwebend über der blauen Meerestiefe in duftiger Ferne, gleich der magischen Luftspiegelung einer Fata morgana, begrenzt den Gesichtskreis, und anschwellend von Minute zu Minute, begrüßen Hunderte von Glocken mit ihren ehernen Stimmen den Sonntags-Morgen eines herrlichen Sommertags. Welch feierlicher Moment der gespanntesten Erwartung! Immer klarer und deutlicher tritt der Halbkreis der Kirchen und Palaste aus der nebligen Ferne, der Wald von Masten schmückt sich mit tausend Wimpeln von allen Farben und vorüber an dem Galeerenhose führt uns endlich die Newa in die Mitte der steinernen Riesenstadt. Unsere kühnsten Hoffnungen sind übertroffen. Dieser prächtige, 1210 F. breite Strom, eingesäumt mit den Quais von Granit, diese 10,000, meist palastähnlichen Hauser mit italien. Architektur, dieses ungeheuere Netz von regelmäßigen Straßen und Canälen, wer sollte nicht staunen bei diesem Anblick, wenn er weiß, daß noch vor wenig mehr als 100 Jahren (Petersburg wurde 1703 von Peter dem[177] Großen erbaut) diese Stelle eine sumpfige, bewaldete, unbewohnte Wüstenei war, und jetzt diese Stadt, mit 480,000 Ew., die würdige Repräsentantin des modernen Rußlands, aufgeklärt und mächtig, ein prächtiges Denkmal auf einer fremden Erde, Zeuge von der Stärke des russischen Schwertes und von dem Genie russ. Kaiser. Zwar entbehrt P. die zauberische Umgebung von Neapel oder Constantinopel, zwar kann man dort selten schon im Mai die Pelze ablegen, aber wenn der Sommer wie gewöhnlich ohne Frühling eintritt, dann steht auch binnen wenigen Tagen alles in voller Blüthe, und die schönen hellen Sommernächte erinnern an Italiens azurnen Himmel. Trete. man nur auf die Brücke von Bethencourt, welche von der Apothekerinsel nach Kamennoi-Ostrow führt, welches Ensemble von Naturschönheiten, neben so vielen Verführungen der Kunst und des Luxus; gehen wir von da nach dem Börsenplatze, mit seinem Walde von Masten und den Flaggen aller Nationen beschattet, werfen von Katharinhof einen Blick auf das Meer und wenden uns nach dem Innern der Stadt. Hier der Winterpalast und die Granitsäule zu Ehren Alexander's, dieser gegenüber die zirkelförmige Façade des Hotels für die verschiedenen Ministerien, rechts davon die Admiralität mit ihrem schönen Boulevard und ihrer goldnen Thurmspitze, dem Zielpunkte der 3 Hauptstraßen von P., die sich von dort wie ein Fächer auseinander breiten, weiterhin die riesenmäßigen Granitsäulen der Isaakskirche, die Garde-Reitschule, gleichsam als Hintergrund zu der Statue Peter I., so gelangen wir an die Ufer der Newa, links von einer prächtigen Reihe von Hotels garnirt, rechts mit dem Quai der Wassily-Insel, die Gebäude der Akademie, des Marine- und Bergwerks-Instituts. Die schönste Straße der Stadt ist unstreitig die Perspektive, von der Admiralität bis zur Brücke von Anitschkoss reichend, zu beiden Seiten mit Bäumen bepflanzt und durch glänzende Kaufmannsläden geziert. Zu übersehen sind ferner nicht der Marmorpalast, der rothe Palast, wo Paul I. um's Leben kam, das[178] große russ. Theater und die Festung. Letztere ist durch die Newa von den schönern Stadttheilen geschieden. Dieser Fluß, im Sommer mit unzähligen Gondeln bedeckt, bietet im Winter, wenn eine starke Eisdecke seine blauen Fluthen verdeckt, ein höchst charakteristisches Bild. Ein, wie durch Zauber entstandenes Dorf von hölzernen Häusern, Bauern, welche ihre Nationaltänze aufführen, Possenreißer, Rutschberge, zahllose Schlitten etc. erinnern an das fröhliche Treiben unserer Jahrmärkte. Der während des Sommers besuchteste Theil der Umgebungen P's ist der zwischen der Stadt und dem finnischen Meerbusen, wo sich eine Menge Landhäuser und englische Anlagen befinden, und der beliebteste Spaziergang nach der Insel Krestowskoi. In dieser Richtung liegen auch die kais. Sommerwohnungen Yelagei und Kamennoi-Ostrow. Fast in keiner Stadt Europa's begegnet man auf den Straßen so vielen Equipagen, welche hier den vornehmsten Luxus ausmachen. Droschken, Britschken, Kaleschen, Karossen, oft vier- und sechsspännig, drängen sich in wildem Getümmel durcheinander, und an allen Gassenecken halten Droschken, welche uns für 80 Kopeken nach den weitesten Theilen der Stadt führen. Ein großer Vorzug der P. Straßen ist der, daß man nicht wie in London oder Paris von zudringlichen Bettlern belästigt wird. Ueberraschend ist der Anblick des Obstmarktes. Welch eine Masse, Wechsel, Reichthum, Farbenglanz und seltene Größe dieser Früchte! Die Ananas, neben der fußlangen Weintraube, Melonen aus Astrachan, Apfelsinen, Orangen, Limonen, und daneben alle Obstsorten unseres Klima's, hinter Spiegelfenstern in großen Obstläden; unweit davon gelangen wir auf den Vögel- und Geflügelmarkt, bewundern am Katharinencanale die herrlichen Blumenausstellungen, auf dem Heumarkte die in berghohen Haufen aufgeschichteten Fische aus allen Gegenden Rußlands, und nahe dabei auf dem runden Markte (Krugloi-Rynok) die Gewölbe mit Wildpret. P. ist in 13 Stadtbezirke eingetheilt, hat 70 Brücken, viele große Plätze, wie das Marsfeld, den Platz[179] vor dem Winterpalaste, den Admiralitäts-, den Peters- und Senatsplatz, hat schöne Thore mit Barrieren, und fesselt das Auge vorzugsweise durch seine zahlreichen Kirchen, unter denen die des heil. Isaak, nach ihrer Vollendung, alle andere übertreffen wird. Außerdem vergesse man nicht das Alexander-Newskykloster an der Newa, die kleine Eremitage an der Ostseite des Winterpalastes, wo Katharina II. einen gewählten Kreis von Freunden um sich versammelte, und wo sich unter mehreren Kunstsammlungen jetzt auch die Bildergalerie der Kaiserin Josephine aus Malmaison befindet, zu besuchen; man vergesse ferner nicht den taurischen Palast Potemkin's, den Palast des Großfürsten Michael, den prächtigen Palast des Generalstabs, am Isaaksplatze den Palast des dirigirenden Senats, die Börse, die Universität, und unter den zahlreichen Bildungsanstalten das große Fräuleinstift im Kloster Smolnoi und das St. Katharineninstitut; unter den wissenschaftlichen und Kunstsammlungen aber das Museum Romanzow, die kais. Akademie der Wissenschaften, das russ. Nationalmuseum, die Stadtbibliothek mit 300,000 Bänden, die der Eremitage, und die Antiken des taurischen Palastes zu bewundern. Doch nicht Glanz, Reichthum und Wissenschaft allein haben in dieser wunderbaren Hauptstadt des russ. Reichs so reichhaltige Blüthen getrieben, auch Industrie und Handel vereinigten mit jenen ihre Kräfte, daß das Riesenkind zum Koloß anwachse. 190 Fabriken arbeiten in Zucker, Leder, Glas, Gold und Silber, Seidenzeugen, Baumwolle, Papier etc., und gegen 1200 Schiffe tragen die aus allen Theilen des Reichs nach P. strömenden Waaren nach allen Richtungen des Auslandes, und will man sich einen Begriff von der Betriebsamkeit des russ. Handels und der Industrie machen, so gehe man nur nach dem Kaufhause (Gostinoi-Dwor), dem Petersburger Palais royal, mit seinen 340 Kaufläden. Wie wir schon erwähnten, machen die zahlreichen Equipagen einen wesentlichen Luxusartikel der reichen und selbst der weniger begüterten Bewohner P's aus. Hierzu kommt eine[180] Anzahl von Bedienung, wie sie nirgends angetroffen wird, und die im Verhältniß zu der bekannten russ. Gastfreiheit steht. Einmal in einigen Familien eingeführt, was sehr leicht ist, wird der Fremde kaum Herr mehr seiner Zeit. Die Lebensweise der Vornehmen, obschon sehr verschwistert mit der anderer Hauptstädte Europa's. gewinnt einen besondern Reiz dadurch, daß sich oft Reflexe asiatischer Sitte darin abspiegeln. Die russ. vornehmen Frauen besitzen eine ungewöhnlich seine Bildung, eine außerordentliche Gewandtheit des Geistes und eine Menge Fertigkeiten, welche sie zu liebenswürdigen Gesellschafterinnen machen. Man findet wenige in den höhern P. Cirkeln, die nicht französisch, deutsch und englisch mit großer Geläufigkeit sprachen, mit der Literatur und Geschichte unseres Welttheils sehr vertraut sind und eine große Gabe besitzen, die schwierige Aufgabe der Repräsentation zu lösen. Außer den vielen Privatgesellschaften findet man musikalische, Tanz- und Spielvereine, mit welchen Balle, Maskeraden, Concerte, Schauspiele, Ballets, Spazierfahrten auf den Garteninseln, ähnlich denen von Longchamp in Paris, Luftfahrten auf der Newa, namentlich nach dem reizenden Krestowsky, ein Eigenthum der Fürstin Bielloselsky, oder nach der schönen Villa des Grafen Stroganow, oder der der Familie Narischkin abwechseln. Die 4 Theater der Stadt führen Stücke in russ., deutscher und franz. Sprache auf, haben eine italien. Oper und vortreffliches Ballet. Unter den vielen Wohlthätigkeitsanstalten sei hier nur das große Findelhaus, das Hospitium zur Entbindung, die Frauengesellschaft zur Erziehung arme Kinder und andere wohlthätige Zwecke etc., erwähnt.. Wer Ausflüge in die Umgegend macht, vergesse nicht Peterhof, dieses russ. Versailles, das Lustschloß Strelna, so wie Oranienbaum, Zarskoe-Selo, von Katharina I. angelegt, den Park von Pawlowsk, den Lieblingssommersitz der verewigten Kaiserin Maria Feodorowna (s. d.), und Gatschina zu besuchen. Und hat man dann nun endlich jene wunderbare und großartige Anhäufung materieller und geistiger Elemente[181] dieses nordischen Riesenkindes, dieser jugendlichen Geburt des letzten Jahrhunderts durchwandert und durchforscht, fürwahr, dann kommt man wohl in Versuchung den staunenden Blick von der Gegenwart nach der Zukunft zu wenden und zu fragen: Welches werden die Grenzen von Macht und Größe sein, wenn die jetzt noch so lebenskräftige Czarenstadt, wie London und Paris, eine 1000 jährige Geschichte besitzt?
B....i.
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