Ding an sich

[221] Ding an sich heißt dasjenige, was den Objecten der Außenwelt als transcendenter Factor (s. d.) zugrunde liegt, das Ding, wie es unabhängig vom erkennenden Subject in seinem Eigensein besteht, die Wirklichkeit außerhalb des erkennenden Bewußtseins und nicht in die Formen desselben gekleidet. Es manifestiert sich in der Erscheinung (s. d.). Da die Dingheit schon (an der Hand der Erfahrung) durch das Denken gesetzt ist, so spricht man besser vom »An-sich der Dinge« als dem äußeren Grunde der Objectvorstellungen. Die Unabhängigkeit dieser vom Willen des Subjects, ihre Constanz, Bestimmtheit und Gesetzmäßigkeit nötigt das Denken, ein An-sich der empirischen Dinge anzunehmen, zu fordern; dadurch wird das Transcendente nicht zu einem Bewußtseinsimmanenten, sofern es nur mit Bestimmungen gesetzt wird, die wirklich als außer dem erkennenden Ich existierbar gedacht werden können. Das An-sich der Dinge ist ein Correlat, ein Analogon zur Ichheit. Es wird denn auch vom Spiritualismus (s. d.) als etwas Seelisches, vom Voluntarismus (s. d.) als Wille, vom Intellectualismus (s. d.) als Vernunft gedacht. Für den Materialismus (s. d.) ist die Materie Ding an sich. Für den subjectiven Idealismus gibt es überhaupt keine Dinge an sich. Der (aprioristische) Kriticismus (und Agnosticismus) behauptet die Unerkennbarkeit der Dinge an sich.[221]

Der Begriff des »An-sich« (s. d.) findet sich schon in der antiken Philosophie. Die Kyrenaiker unterscheiden von dem objectiven Bewußtseinsinhalte (to pathos êmin esti phainomenon) das Ding an sich, das unbekannt ist (to ektos hypokeimenon kai tou pathous poiêtikon, Sext. Empir. adv. Math. VII, 191). Auch CHRYSIPP unterscheidet Erscheinung und Ding (l.c. VIII, 11; Pyrrhon. hypot. II, 7).

Nach DESCARTES sagen uns die Sinnesqualitäten in der Regel nichts über die Beschaffenheit der Dinge an sich. »Satis erit, si advertamus, sensuum perceptiones non referri nisi ad istam corporis humani cum mente coniunctionem, et nobis quidem ordinarie exhibere, quid ad illam externa corpora prodesse possint, aut nocere; non autem, nisi interdum et ex accidenti, nos docere, qualia in seïpsis existant« (Princ. philos. II, 3). MALEBRANCHE meint, Gott schaue die Dinge an sich (»en elles-mêmes«). LEIBNIZ sieht in den Monaden (s. d.) Dinge an sich, deren Phänomene die Körper sind.

LOCKE hält das Wesen des Geistes und der Materie, die »things themselves«, für unbekannt; so auch HUME (Treat. Einl. S. 5). MAUPERTUIS erklärt: »Nous vivons dans un monde où rien de ce que nous apercevons ne ressemble à ce que nous apercevons. Des êtres inconnus excitent dans notre âme tous les sentiments, toutes les perceptions, qu'elle éprouve, et, ne ressemblant à aucune des choses que nous apercevons, nous les représentent toutes« (Lettres philos. 1752). Nach CONDILLAC steht es fest, daß wir nicht die Dinge an sich wahrnehmen. Sie können ganz anders sein, als sie sich uns darstellen (Trait. d. sens. IV, 5, § 1). BONNET unterscheidet die Erscheinung (»ce que la chose paraît être«) von der »chose en soi«. »Autrefois on cherchait ce que les choses sont en elles-mêmes, et on disait orgueillensement des savantes sottises. Aujourd' hui on cherche ce que les choses sont par rapport à nous, et ont dit modestement des grandes vérités.« »L'essence réelle de l'âme nous est aussi inconnue que celle du corps. Nous ne connaissons l'âme que par ses facultés, comme nous ne conaissons le corps que par ses attributs« (Ess. de Psychol.c. 36). Ähnlich HEMSTERHUIS. Nach LAMBERT ist die Sache, »wie sie an sich ist«, zu unterscheiden von der Sache »wie wir sie empfinden, vorstellen« (Organ. Phaen. I, § 20, 51).

Eine neue Prägung bekommt der Begriff des Ding an sich bei KANT. Er versteht darunter das unerkennbare Sein der Dinge außerhalb des erkennenden Bewußtseins, den »Grund« unserer Wahrnehmungen. Es sind uns Dinge gegeben, »allein von dem, was sie an sich sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen (d. i. die Vorstellungen, die sie uns wirken)« (Prolegom. § 13, Anm. II). Die Dinge an sich sind uns gänzlich unbekannt, alles Vorstellbare, positiv begrifflich zu Bestimmende gehört zur Erscheinung (s. d.), die aber ein »Correlat« an sich haben muß (Krit. d. r. Vern. S. 57). »Was für eine Bewandtnis es mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Receptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt« (l.c. S. 66). Doch kann, ja muß die Existenz von Dingen an sich zwar nicht erkannt, aber doch wenigstens gedacht werden. »Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint« (l.c. Vorr. z. 2. Ausg., S. 23). Der »Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen« liegt in etwas »Übersinnlichem«; »die Gegenstände, als Dinge an sich, geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen, seiner Sinnlichkeit gemäß, zu bestimmen), aber sie [222] sind nicht der Stoff derselben« (Üb. e. Entdeck. S. 35 f.). Die praktische Philosophie Kants ist geneigt, den reinen Willen, d.h. den freien, sich selbst zur Sittlichkeit bestimmenden Willen, als Ding an sich anzusehen (Kr. d. pr. Vern. 1. T., 1. B., 3. Hptst.). Als »Noumenon« (s. d.) ist das Ding an sich ein »Grenzbegriff« (Kr. d. r. Vern. S. 235).

Die Annahme von Dingen an sich zugleich mit der Behauptung der Subjectivität der Kategorien, welche ein »Ding« erst constituieren, wird von einer Reihe von Philosophen beanstandet oder corrigiert. So von JACOBI. Nach ihm können Dinge an sich nicht auf uns einwirken, da die Causalität nur für Erscheinungen gilt (WW. II, 301 f.). Ohne die Voraussetzung von Dingen an sich kommt man nicht in das Kantsche System hinein, und mit ihr kann man nicht darin bleiben (l.c. S. 304). Ganz ähnlich argumentiert G. E. SCHULZE. (Aenesid. S. 262). BECK will den Begriff des »Dinges an sich« eliminieren, das Subject wird nicht durch dasselbe, sondern durch die Erscheinungsobjecte afficiert (Erl. Ausz. III). Auch S. MAIMON setzt die »Affection« ins Bewußtsein selbst und negiert das Ding an sich. Mit diesem Idealismus macht J. G. FICHTE vollkommen Ernst. Nach ihm ist der Gedanke des »Dinges an sich« ein Ungedanke; das Ding ist so, wie es von jedem Intellecte gedacht werden muß. Kein Object ohne Subject – daher kein Ding an sich (Gr. d. g. Wiss. S. 131). Das Ding ist ein Setzungsproduct des Ich (s. d.), praktisch so, wie wir es machen sollen (l.c. S. 275). Doch kann Fichte den »Anstoß« nicht beseitigen, der uns nötigt, Objecte anschaulich-begrifflich zu setzen. – SCHELLING erklärt die Dinge an sich für »Ideen in dem ewigen Erkenntnisart« (Naturphil. S. 70). Es gibt wohl ein Erstes, für sich Unerkennbares, aber es gibt kein Ding an sich, das Ding mit den subjectiven Bestimmungen ist das wahre Ding (WW. I 10, 216). HEGEL sieht im »Ding an sich« ein Abstractionsproduct aus der Reflexion auf die Dingheit. Es ist »das Existierende als das durch die aufgehobene Vermittlung vorhandene wesentlich Unmittelbare« (Log. II, 125). Das An-sich der Dinge ist nicht unerkennbar, es ist »Idee« (s. d.). K. ROSENKRANZ: »Das sogenannte Ding an sich ist... ein bloßes Abstractum«, weil jedes Ding nur in seinen Bestimmtheiten Existenz hat (Syst. d. Wiss. S. 61). »Das wahrhafte Ding an sich sind die Unterschiede, welche das Wesen in seine Existenz setzt« (ib.). Nach CHALYBÄUS ist der Begriff des Ding an sich der, daß es das »andere« jedes subjectiven Begriffs ist (Specul. Philos. seit Kant4, S. 92).

Die Unerkennbarkeit des »Ding an sich« betonen in abgestufter Weise die Kantianer und andere Denker. So V. COUSIN: »Nous savons qu' il existe quelque chose hors de nous, parceque nous ne pouvons expliquer nos perceptions sans les rattacher à des causes distinctes de nous-mêmes... Mais savons-nous quelque chose de plus? Nous ne savons pas ce que les choses sont en elles-mêmes« (Cours d'hist de la phil. 8meleç.). Ähnlich W. HAMILTON, J. ST. MILL (Log. I, 74), auch H. SPENCER, nach welchem das Absolute, Gott (s. d.) »unknowable« ist. A. LANGE sieht im Ding an sich einen »Grenzbegriff«, der notwendig aber völlig problematisch, ohne positiven Inhalt ist (Gesch. d. Mat. II3, 49). Wir kennen nur die Eigenschaften; das Ding selbst ist nur ein »Ruhepunkt für unser Denken«. O. LIEBMANN hält das Ding an sich, wie es bei Kant auftritt, für ein »Unding« (K. u. d. Epig. S. 45 ff.), für ein »hölzernes Eisen« (l.c. S. 27). Nach COHEN ist das Ding an sich ein bloßer »Grenzbegriff« (Kants Theor. d. Erf. S. 252). HELMHOLTZ hält unsere Erkenntnis für ein »Zeichensystem« unbekannter Verhältnisse[223] der Dinge an sich (Tatsach. i. d. Wahrn. S. 39). SABATIER hält das »Ding an sich« für ein »Unding« (Religionsphilos. S. 295). E. LAAS hält die Frage nach den Dingen an sich, wegen der Relativität (s. d.) unseres Erkennens, für undiscutierbar (Id. u. pos. Erk. S. 458 f.). RIEHL hält nur die »Grenzen« der Dinge für erkennbar, d.h. die in unseren Anschauungs- und Denkformen zum Ausdruck gelangenden einfachen Verhältnisse derselben (Phil. Krit. II 1, 24).

Von Idealisten und Positivisten wird das »Ding an sich« ganz eliminiert. So von der »Immanenzphilosophie« (s. d.). Nach HODGSON gibt es kein Ding an sich, »because there is no existence beyond consciousness« (Phil. of Reflect. I, 219). »Thing-in-itself is a word, a phrase, without meaning, flatus vocis«. »Everything is phenomnal« (l.c. p. 167, vgl. p. 213). SCHUPPE hält den Begriff des »Ding an sich« für einen »unmöglichen«. Etwas, das weder formal (mittelst der Kategorien) noch inhaltlich (nach Analogie der Wahrnehmung) gedacht werden darf, ist ein Nichtseiendes (Log. S. 14). – L. STEIN betont: »Die Welt erscheint uns... nicht, wie sie ist, sondern sie ist so, wie sie uns erscheint; das Ding an sich ist nur ein Ding für mich... Eine andere Wirklichkeit, als die von uns gedachte, gibt es schlechterdings nicht« (An d. Wende d. Jahrh. S. 266). Nach H. CORNELIUS ist das »Ding an sich« im Sinne der unerkennbaren Ursache der Erscheinungen ein »Unvorstellbares und seinem. Begriffe nach innerlich Widerspruchsvolles« (Einl. in d. Philos. S. 323). Die Frage nach der Beschaffenheit der Dinge an sich, des »beharrlichen Seins in der Welt« hat eben »in dem gesetzmäßigen Zusammenhange der Erscheinungen« ihre Antwort (l.c. S. 330; Allg. Psychol. S. 246 ff.). E. MACH hält das Ding an sich für eine Fiction (Anal. d. Empfind.4, S. 10), so auch OSTWALD (Vorles. üb. Naturphil.2, S. 242).

Nach anderen Philosophen ist die Unerkennbarkeit des Dinges an sich eine relative; das An-sich der Dinge wird von ihnen meist nach Analogie der Ichheit, des geistigen Seins bestimmt. SCHOPENHAUER betont, durch äußere Erfahrung, auf dem Wege der Vorstellung kann man nie zu Dingen an sich gelangen. Nur durch innere Erfahrung, besser durch innere Intuition erfaßt das Ich sich selbst unmittelbar in seinem An-sich, als Willen (s. d.). »Ding an sich... ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles Object die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objectität ist. Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen: er erscheint in jeder blind wirkenden Naturkraft« (W. a. W. u. V. Bd. I, § 22, II, C. 1). Nach HERBART erkennen wir nur die Beziehungen, welche die Dinge an sich (»Realen«, (s. d.)) in unserem Denken annehmen (Met. I, S. 412 ff.). BENEKE (Syst. d. Log. II, 288,) hält das geistige Leben für eine angemessene Erscheinung der Dinge an sich. LOTZE bestimmt die Dinge an sich als (geistige) Monaden (s. d.), deren Beziehungen objectiv-phänomenal erkannt werden, so auch RENOUVIER (Nouv. Monadol.) CLIFFORD bestimmt die Empfindung (s. d.) als »Ding an sich« (Von d. Nat. d. Dinge an sich S. 39, 44). Das Ding an sich ist »Seelenstoff« (mind-stuff, (s. d.)). R. HAMERLING sieht im Ding an sich die »Voraussetzung desjenigen, was von dem Wahrgenommenen übrigbleibt, wenn man die Wahrnehmung davon abzieht« (Atom. d. Will. I, 82). Das An-sich der Dinge besteht in Kraft- und Lebenspunkten (l.c. S. 83 f.). NIETZSCHE verwirft den Begriff einer Welt von Dingen an sich unbekannter Qualität, einer »Hinterwelt«, die von uns nur zu den Erscheinungen hinzugedichtet wird (WW. XV,[224] 271, 278, 285). Er selbst betrachtet als das An-sich der Dinge den »Willen zur Macht« (s. d.). Nach WUNDT entsteht der Begriff des »Ding an sich« durch Hypostasierung der Objectivität. Die Möglichkeit, daß unser Denken »zur idealen Fortsetzung von Gedankenreihen veranlaßt wird, die über jede gegebene Erfahrung hinausreichen«, ist nicht zu bestreiten. Aber dabei müssen doch wieder die Denkgesetze und Denkformen angewendet werden (Phil. Stud. VII, 45 ff.). Bezeichnet man als Ding an sich den »Gegenstand unmittelbarer Realität«, so muß das denkend-wollende Subject ein solches sein. Die Objecte haben nur mittelbare Realität, sie weisen auf ein An-sich hin, das als Wille (s. d.) gedacht werden kann, sind aber selbst nur Phänomene, das geistige Subject aber ist nicht Erscheinung, sondern Ding an sich (Log. I2, 546 ff., 549, 552, 555). Das An-sich der Welt ist (vorstellender) Wille (Syst. d. Phil.2, S. 403 ff.; Phil. Stud. XII, 61 f.). Vgl. An-sich, Ding, Erscheinung, Object, Noumenon, Gott, Spiritualismus.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 221-225.
Lizenz:
Faksimiles:
221 | 222 | 223 | 224 | 225
Kategorien:

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon