Wahrnehmung (2)

[701] Wahrnehmung, innere oder unmittelbare, ist das psychische Erleben in seiner (concreten) Bewußtheit als solches, als Bewußtseinsvorgang (s. d.), Während durch die »äußere« Wahrnehmung Erlebnisse auf Objecte (s. d.) außer uns bezogen werden, besteht die innere Wahrnehmung, im weitesten Sinne, in dem Bemerken psychischer Vorgänge oder in dem mehr oder weniger aufmerksamen psychischen (s. d.) Erleben selbst. In einem engeren Sinne ist die psychische Wahrnehmung die »Reflexion« (s. d.), d.h. die Zurücklenkung der Aufmerksamkeit von der Außenwelt weg auf die Tatsache des Erlebens (Empfindens, Vorstellens u.s.w.) selbst, das concrete Wissen um ein solches Erleben als eines Zustandes oder Actes des Subjects, durch unmittelbare (nicht begriffliche) Beziehung auf dieses, durch Selbstbesinnung, deren Ausdruck ein Urteil über das eigene Erleben ist. Da die innere Wahrnehmung nichts ist als das sich selbst zur Bewußtheit steigernde Bewußtsein selbst, geht sie nirgends über das Erleben hinaus, und ihr Gegenstand hat demnach unmittelbare Realität, d.h. er wird als das genommen, beurteilt, was er ist, nicht als Zeichensystem für ein Transcendentes. Gleichwohl ist er auch einer Verarbeitung durch das Denken unterworfen, und sind auch auf dem Gebiete der innern Wahrnehmung Irrtümer im einzelnen (betreffs der Art der Coordinationen u.s.w.) möglich. Zwar wird durch die Anschauungsform der Zeit (s. d.) das Wesen der Ichheit (s. d.) gleichsam auseinandergezogen, es kommt nicht als reines [701] An-sich, nicht adäquat zur Erkenntnis, aber qualitativ wird die Ichheit durch die innere Wahrnehmung doch nicht verändert, nicht zur Erscheinung einer ontologisch ganz anders gearteten Realität, etwa eines Ungeistigen, gemacht. Daß der Gegenstand der »inneren« Wahrnehmung etwa absolute Realität hat, das Für-sich-sein, An-sich (s. d.) des Menschen u.s.w. sei, das steht nicht schon durch die innere Wahrnehmung fest, sondern kann erst durch kritische Besinnung plausibel gemacht werden. Den Standpunkt der innern Wahrnehmung nimmt die Psychologie (s. d.) ein, während die Naturwissenschaft das Erlebte zu einem begrifflichen Zeichensysten transcendenter Factoren verarbeitet. die Metaphysik kann noch den äußeren durch den inneren Standpunkt universell ergänzen. Aus wiederholten inneren Wahrnehmungen geht die innere Erfahrung (s. d.) hervor.

Die Lehre von der inneren Wahrnehmung bildet in älterer Zeit meist einen Bestandteil der Lehre vom inneren Sinn (»sensus interior«), der sowohl als Gemeinsinn (s. d.), wie als Fähigkeit inneren Erlebens, Reflectierens, Vorstellens u.s.w. gilt.

Dem Gemeinsinn (s. d.), koinê aisthêsis, schreibt ARISTOTELES auch die Wahrnehmung des Empfindens zu (De memor. 1. De somn. 2). Er lehrt eine noêsis noêseôs (Eth. Nic. IX, 9). CICERO spricht von »tactus interior« (Acad. II, 7, 20). PLOTIN hat den Begriff der synaisthêsis (s. Bewußtsein).

Nach AUGUSTINUS nimmt der innere Sinn das eigene Empfinden wahr (De lib. arb. II, 4. De anim. IV, 20). »Nos arbitror ratione comprehendere esse interiorem quendam sensum, ad quem ab istis quinque notissimis sensibus cuncta feruntur« (De lib. arb. II, 23). Nach SCOTUS ERIUGENA geht der innere Sinn auf die Verhältnisse der Begriffe (De div. nat. II, 23). Eine Erkenntnisfunction hat der innere Sinn nach HUGO VON ST. VICTOR (De an. II, 4). AVICENNA unterscheidet fünf innere Sinne: »phantasiae, quae est sensus communis« (Gemeinsinn), »imaginatio«, »vis imaginativa« (»cogitativa«), »vis aestimativa«, ,»vis memorialis et reminiscibilis« (De an. IV, 1. vgl. M. Winter, Üb. Avic. Op. egreg. S. 28 ff.). Nach THOMAS heißt der innere Sinn »communis« als »communis radix et principium exteriorum sensuum« (Sum. th. I, 78, 4 ad 1). »Sensus communis apprehendit sensata omnium sensuum propriorum« (Contr. gent. II, 74. vgl. De pot. anim. 4). Es gibt vier »vires interiores sensitivae partis«: »sensus communis«, »imaginatio« »aestimativa«, »memoria« (Sum. th. I, 78, 4). WILHELM VON OCCAM betrachtet den »sensus interior« als eine Quelle anschaulicher Erkenntnis (In l. sent. I, 3, 5).

MELANCHTHON bestimmt den inneren Sinn als »potentia organica intra cranicum ad cognitionem destinata excellentem actiones sensuum exteriorum«. Er hat die Function der »diiudicatio« und »compositio«, besteht aus »sensus communis«, »cogitatio seu compositio«, »memoria« (De an. p. 174 ff.). Ähnlich lehrt CASMANN (Psychol. anthropol. p. 359), welcher vom »actus reflexus« spricht (l. c. p. 11, 89). Nach ZABARELLA gibt es »sensus communis«, »phantasia« (und »memoria«) (De reb. nat. p. 720). BOVILLUS erklärt: »Est enim sensus ut quaedam extertoris memoria et ut penitior locus, in quo sensibilia spectra et colliguntur et reservantur« (De sensib. 1, 1. De intell. 6. vgl. SUAREZ, De anim. I, 3, 30 CAESAR CREMONINUS, L. VIVES, De anim. I, 31 ff.. CARDANUS, De variet. VIII, p. 154. CAMPANELLA, G. BRUNO u. a.). – DESCARTES erklärt: »Nempe nervi, qui ad ventriculum, oesophagum, fauces, aliasque interiores partes, explendis naturalibus desideriis destinatas, protenduntur, faciunt unum[702] ex sensibus internis, qui appetitus naturalis vocatur. nervuli vero, qui ad cor et praecordia, quamvis perexigui sint, faciunt alium sensum internum, in quo consistunt omnes animi commotiones« (Princ. philos. IV, 190. Medit. IV. De hom. 4).

Die engere Bedeutung der inneren Wahrnehmung erhält der »innere Sinn« bei LOCKE. Der innere Sinn (»internal sense«) ist eins mit der »Reflexion« (s. d.). Er ist »the notice which the mind takes of its own operations« (Ess. II, ch. l, § 4), das Bewußtsein der eigenen seelischen Processe, als eine Quelle der Erkenntnis (s. d.). »Diese Quelle von Vorstellungen hat jeder ganz in sich selbst, und obgleich hier von keinem Sinn gesprochen werden kann, da sie mit äußerlichen Gegenständen nichts zu tun hat, so ist sie doch den Sinnen sehr ähnlich und könnte ganz richtig innerer Sinn genannt werden« (ib.). HERBERT VON CHERBURY bestimmt als Object des inneren Sinnes das Gute. das Gewissen ist der innere Sinn, der »sensus communis« Nach LEIBNIZ ist der innere Sinn (»sens interne«) der Einheitspunkt der verschiedenen Sinne (»sens interne, où les perceptions de ces différents sens externes se trouvent réunies« (Gerh. VI, 501. vgl. Apperception). CHR. WOLF erklärt: »Mens etiam sibi conscia est eorum, quae in ipsa contingunt... se ipsam percipit sensu quodam interno« (Philos. rational. § 31). ähnlich BAUMGARTEN (Met. § 396, 534), BILFINGER u. a. Nach FEDER rührt ein großer Teil unserer Begriffe »aus den Empfindungen her, die wir vermöge des innern Sinnes haben: daher hat die Seele den Begriff von ihr selbst und von ihren Eigenschaften« (Log. u. Met. S. 52). Die Fähigkeiten des innern Sinnes sind: das Selbstgefühl, das Gefühl des Wahren, des Schönen, des Moralisch-Guten (l. c. S. 28. vgl. MENDELSSOHN, Phädon S. 109 f.). TETENS schreibt dem inneren Sinne Gefühle, Wollen und Denken als Objecte zu (Philos. Vers.). Nach REID u. a. ist der »common sense« (s. d.) die Quelle eines evidenten, sicheren Wissens.

Eine neue Wendung nimmt die Geschichte des Begriffs des innern Sinnes bei KANT. Er versteht unter Sinn (s. d.) die Receptivität (s. d.) überhaupt, die Fähigkeit, Vorstellungen durch Affection (s. d.), also nicht durch Spontaneität (s. d.) zu erhalten. Daher gibt es außer dem äußern auch einen innern Sinn, bei welchem der Mensch »durchs Gemüt afficiert wird« (Anthropol. 1, §13). Der Geist, das Bewußtsein produciert die Vorstellungen von sich selbst nicht spontan, sondern muß erst durch sich selbst afficiert, erregt werden, um sich anzuschauen. Da die Form des innern Sinnes, die Zeit (s. d.), subjectiv ist, so erkennt sich das Ich nicht wie es an sich ist, sondern nur als Erscheinung (s. d.). »Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst oder seinen innern Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Object, allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres innern Zustandes allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird« (Krit. d. rein. Vern. S. 50 f.). Die Zeit ist »die Form des innern Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres innern Zustandes«. – »Alles, was durch einen Sinn vorgestellt wird, ist sofern jederzeit Erscheinung, und ein innerer Sinn würde also entweder gar nicht eingeräumt werden müssen, oder das Subject, welches der Gegenstand desselben ist, würde durch denselben nur als Erscheinung vorgestellt werden können« (l. c. S. 72). »Wenn das Vermögen, sich bewußt zu werden, das, was im Gemüte liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muß es dasselbe afficieren und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen...,[703] da es denn sich anschauet, nicht wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen afficiert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist« (l. c. S. 73). »Das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der inneren Wahrnehmung ist bloß empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der innere Sinn genannt oder die empirische Apperception« (l. c. S. 120 f.. vgl. Apperception, Selbstbewußtsein). Vgl. REININGER, Kants Lehre vom inn. Sinn.

Nach REINHOLD stellt durch den innern Sinn das Bewußtsein sich selbst vor als »empfangend das Mannigfaltige, und zwar dadurch, daß es die Art und Weise, die Form des Empfangens als etwas von seinem Vermögen Eigentümliches in einer Vorstellung a priori vorstellt« (Theor. d. Vorstell. S. 369). Nach FRIES ist der innere Sinn das »Vermögen der innern Wahrnehmung unserer geistigen Tätigkeiten« (Syst. d. Log. S. 49 f.. Psych. Anthropol. § 25). Der innere Sinn ist »eine Empfänglichkeit, bei welcher die Tätigkeit von innen angeregt wird« (Neue Krit. I, 111). Ähnlich bestimmt CALKER (Denklehre, S. 214. ähnlich auch WYTTENBACH, KRUG, JAKOB, HOFFBAUER, MAASS, LICHTENFELS, Gr. d. Psychol. S. 67, u. a.). BOUTERWEK unterscheidet vom innern Sinn, dem sinnlichen »Anerkennen unserer Vorstellungen als solcher«, einen »innersten Sinn« (Apodikt. I, 274).

Daß die innere Wahrnehmung kein »Sinn«, sondern unmittelbares Wissen sei, betont gegen Kant zuerst G. E. SCHULZE. Er bemerkt: »Von den äußern Sinnen ist in den neuern Zeiten der innere Sinn, welcher auch der höhere genannt wird, unterschieden worden. Man versteht darunter das Bewußtsein alles dessen, was im Innern stattfindet und zu den Bestimmungen unseres Ich gehört... Es wurde aber das Bewußtsein des Innern unter den Titel Sinn gebracht, weil wir uns zum Erkennen der Gegenstände desselben eben so genötigt fühlen, als wie zum Empfinden der Gegenstände der äußeren Sinne« (Psych. Anthropol. S. 114 f.). »Da unter einem Sinne die Fähigkeit zu einer Erkenntnis verstanden wird, deren Entstehen an die Affection eines besondern körperlichen Werkzeuges gebunden ist, wir aber von einem solchen Werkzeuge der Erkenntnis unseres Innern nichts wissen, ob es wohl dergleichen geben mag, so ist der Ausdruck innerer Sinn zur Bezeichnung dieser Erkenntnis unpassend, darf nur bildlich genommen werden und veranlaßt leicht Mißverständnisse, daher es auch besser wäre, ihn wieder eingehen zu lassen« (l. c. S. 115). »Wenn der innere Sinn Erkenntnisse betrifft, etwa Gedanken des Verstandes oder Ideen der Vernunft und Phantasie, so darf sein Wirken nicht für ein von den Erkenntnissen noch verschiedenes Erkennen derselben genommen werden. Das Wissen vermittelst desselben ist ein unmittelbares und von eben der besondern Beschaffenheit, wie das im Bewußtsein des Ich stattfindende. Die Behauptung aber, daß alles Erkennen und das Bewußtsein davon wieder durch ein Vorstellen desselben vermittelt und bedingt werde, ist ungereimt. Denn alsdann müßte auch zum Bewußtsein der Vorstellung, die das Erkennen vermitteln soll, abermals eine andere Vorstellung und zum Bewußtsein dieser gleichfalls eine andere und so ohne Aufhören fort, mithin eine Reihe von Vorstellungen, die keinen Anfang hätte, erforderlich sein« (l. c. S. 116). Nach E. REINHOLD darf das Selbstbewußtsein nicht als innerer »Sinn« aufgefaßt werden (Lehrb. d philos. propäd. Psychol. S. 102 f.). Der »innere Sinn« ist »den eigenen unwillkürlichen und willkürlichen Lebensbewegungen des Individuums«[704] zugewandt (l. c. S. 101). BIUNDE: erklärt, »innerer Sinn« sei eine uneigentliche Ausdrucksweise. Er ist das Vermögen der Anschauung eines im Ich Seienden (Empir. Psychol. I 1, 163). Nach HILLEBRAND geht der innere Sinn auf die inneren Zustände der Organe. der psychisch-innere Sinn ist »die unmittelbare Individualisierung der Seelensubjectivität und ihrer Bestimmung in der innerlich-sinnlichen Bestimmtheit des Leibes« (Philos. d. Geist. I, 159). – Nach SCHELLING ist der innere Sinn »das Ich, nicht insofern es auf diese oder jene besondere Weise bestimmt ist, sondern das Ich überhaupt als Product seiner selbst« (Syst. d. tr. Ideal. S. 54). »Im Selbstgefühl wird der innere Sinn, d.h. die mit Bewußtsein verbundene Empfindung, sich selbst zum Object« (l. c. S. 213). ESCHENMAYER erklärt: »Der innere Sinn offenbart uns den organischen Zustand unseres Leibes. Hieher gehören die mannigfaltigen Empfindungen des Wohl- und Übelseins, angenehme und schmerzhafte Eindrücke« (Psychol. S. 37, 42 f.). Nach SUABEDISSEN ist der innere Sinn die Fähigkeit der Wahrnehmung der eigenen organischen Zustände (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 84. vgl. Üb. die innere Wahrnehmung, 1808). SCHUBERT betrachtet als Richtungen des inneren Sinnes Einbildungskraft und Gedächtnis (Lehrb. d. Menschen- u. Seelenk. S. 137 ff.). – Nach MICHELET erfolgt durch den innern Sinn ein »Zusammnenfassen aller Sinnesempfindungen in eine Einheit« (Anthropol. S. 261 f.).

Nach SCHLEIERMACHER hat der Gegenstand des innern Sinnes unmittelbare Realität (Dialekt. S. 53 ff.). H. RITTER erklärt: »Von der Erscheinung des Ich wissen wir unmittelbar, indem wir die Empfindung denken« (Abr. d. Log.2, S. 29). BENEKE betont: »Bei der innern Wahrnehmung wird nicht allein das wahrgenommene oder vorgestellte Sein von der Wahrnehmung oder Vorstellung erreicht, sondern dieses Sein geht unmittelbar als Bestandteil in dies Vorstellen ein, und durch dieses wird qualitativ nicht das Mindeste hinzugebracht, was nicht auch schon im vorgestellten Sein enthalten wäre. Wir haben also hier ein Vorstellen von voller oder absoluter Wahrheit« (Lehrb. d. Psychol. § 129. vgl. Syst. d. Met. S. 68 ff.. Neue Grdl. zur Met. S. 16. Neue Psychol. S. 54 ff.). »Die innere Wahrnehmung geschieht keineswegs... durch einen angeborenen inneren Sinn, sondern die innern Sinne (für jedes innere Wahrnehmen muß sich ein besonderer ausbilden) bestehen in den Begriffen, welche sich auf die psychischen Qualitäten, Formen, Verhältnisse beziehen. Kommen diese Begriffe zu speciellen psychischen Entwicklungen hinzu, welche die in ihnen vorgestellten Qualitäten etc. an sich tragen, so wird hiedurch das Bewußtsein dieser letzteren in dem Maße verstärkt und aufgeklärt, daß die speciellen Entwicklungen in bezug auf dieselben... vorgestellt werden« (Lehrb. d. Psych. vgl. Neue Psychol. 31, S. 256 f.. Pragmat. Psychol. II, 8 ff.). HERBART ersetzt den »innern Sinn« durch den Begriff der Apperception (s. d.) als »Wissen von dem, was in uns vorgeht« (Lehrb. zur Psychol.3, S. 43). Der »innere Sinn« ist ganz und gar eine Erfindung der Psychologen (l. c. S. 55 f.). Die innere Wahrnehmung besteht in der Apperception durch eine Vorstellungsmasse (Psychol. als Wissensch. II, § 125). So auch G. SCHELLING (Lehrb. d. Psychol.3, S. 127), VOLKMANN, nach welchem die innere Wahrnehmung die Tatsache ist, »daß unsere Vorstellungen (und die auf Vorstellungen beruhenden Phänomene) uns nicht bloß als objective Bilder vorschweben, sondern eine Beziehung auf unser Ich annehmen, der gemäß sie uns als etwas erscheinen, das unser Ich weiß und hat, d.h. das Object seines Vorstellens ist. Schon aus dieser Erscheinung... ergibt sich, daß die innere [705] Wahrnehmung dreierlei in sich schließt: erstlich das Bewußtwerden einer Vorstellung, zweitens das ihres Vorstellens und drittens das der Zugehörigkeit dieses Vorstellens zu dem Ich« (Lehrb. d. Psychol. II4, 176 f.). – Nach SCHOPENHAUER ist der »alleinige Gegenstand des innern Sinnes der eigene Wille des Erkennenden« (W. a. W. u. V. C. 4). Nach F. A. LANGE gibt es keinen innern Sinn (Log. Stud. S. 138).

J. H. FICHTE erklärt: »Das Bewußtsein der Seele von sich selbst beleuchtet nur das in ihr Vorhandene. darum drückt es auch das wahre Wesen der Seele aus.. Wir erkennen wirklich uns selbst in jeder Tatsache des innern Sinnes. wiewohl in keiner dieser Tatsachen vollständig und ganz,« (Psychol. I, 189). Die Wahrheit der innern Wahrnehmung betonen auch BOUILLIER (La vraie conscience, p. 205, 221), VACHEROT (Le nouveau spiritualisme, 1884, p. 211 f.), GALUPPI (Crit. delle conoscenza 1846/47, VI, 13 f.). FERRI (Psychol. de l'attent. 1883, P. 290 f.). – Nach CESCA gibt uns die innere Wahrnehmung die psychischen Zustände an sich, aber nicht das Wesen der Seele, nicht die innere, unbewußte psychische Tätigkeit (Vierteljahrsschr. XI, 415 f.). letzteres ähnlich bei E. v. HARTMANN (s. Ich, Selbstbewußtsein). – Nach ÜBERWEG ist die »innere oder psychologische Wahrnehmung« auf das seelische Leben gerichtet (Log.4, § 36). »Die Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Willensacte, überhaupt die psychischen Acte und Gebilde, werden zu Gegenständen der innern Wahrnehmung, sobald wir sie in ihrem subjectiven Zusammenhange untereinander und mit dem Ganzen unseres Seins auffassen. Die innere Wahrnehmung ist ihrer Natur nach der materialen Wahrheit fähig. es tritt keine subjective Anschauungsform hinzu, welche den wahrzunehmenden Objecten fremd wäre und die reine Auffassung derselben trüben könnte. Denn in bezug auf die psychischen Gebilde und deren gegenseitige Verbindungen ist Bewußtsein und Dasein identisch: wie dieselben in unserem Bewußtsein sind, so ist ihr wirkliches, volles und ganzes Sein, und eben darum sind sie in unserem Bewußtsein so, wie sie in Wirklichkeit sind« (Welt- und Lebensansch. S. 29 f.). Der Begriff von einem psychischen Gebilde enthält nur »die gleichartigen und wesentlichen Charaktere der einzelnen Gebilde in sich«, verfälscht nichts (l. c. S. 30). »Die innere Wahrnehmung ist nicht auf bloße Erscheinungen im Kantschen Sinne beschränkt, sondern führt zur Erkenntnis eines An-sich-seins« (l. c. S. 35). v. KIRCHMANN erklärt: »Der Gegenstand der Selbstwahrnehmung sind... nur die seienden Zustände der eigenen Seele, d.h. deren Gefühle und Begehrungen. Ein Organ besteht hier nicht, vielmehr verbindet sich in der Regel mit dem bloßen Auftretendes Gefühls oder Begehrens auch dessen Wahrnehmung« (Kat. d. Philos.3, S. 23). Nach BRENTANO ist die innere Wahrnehmung die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne, denn sie enthält ein Wirkliches unmittelbar zum Gegenstande, hat materiale Wahrheit (Psychol. S. 119). Nach J. BERGMANN ist die innere Wahrnehmung »Ich-Wahrnehmung, Ich-Bewußtsein, bestimmtes ursprüngliches Ich-Bewußtsein« (Vorles. üb. Met. S. 190). Die innere Wahrnehmung ist gleichbedeutend mit dem Ich-sein. Das Ich ist nur Ich dadurch, daß es sich wahrnimmt (l. c. S. 194). Das Ich ist nicht mehr als das Wahrnehmen selbst (l. c. S. 196). Die innere Wahrnehmung erfaßt, »die Substanz ihres Gegenstandes, nämlich das Ich«. Sie enthält ein Denken, insofern sie »Beziehen von angeschauten Bestimmtheiten, die vom Bewußtsein verschieden sind, auf das angeschaute Ich ist« (l. c. S. 301. vgl. S. 319). Die äußere Wahrnehmung setzt die innere voraus (Grundl. ein. Theor. d. Bewußts. S. 7). HAGEMANN erklärt:[706] »Durch den innern Sinn oder das (Selbst-)Bewußtsein erfahren wir unmittelbar unsere Innenzustände und unser eigenes Dasein.« Das Seelenwesen selbst wird aber nicht dadurch erkannt (Log. u. Noet. S. 139). Nach GUTBERLET haben alle unmittelbaren Urteile der innern Wahrnehmung absolute Wahrheit (Log. u. Erk.2, S. 172 f.). Nach STEUDEL ist der innere Sinn nur die Richtung des Bewußtseins, der Aufmerksamkeit auf die innern Vorgänge (Philos. I 1, 103). Nach UPHUES bilden den Gegenstand der innern Wahrnehmung die Gefühle, Empfindungen, Vorstellungen (Wahrn. u. Empfind. S. V). Die innere Wahrnehmung ist »ein besonderer, von den Bewußtseinszuständen verschiedener und keineswegs immer mit ihnen auftretender Act« (l. c. S. IX). HUSSERL bemerkt: »Die Evidenz der auf Anschauung beruhenden Urteile wird mit Recht bestritten, sofern sie intentional über den Gehalt des factischen Bewußtseinsdatums hinausgehen. Wirklich evident sind sie aber, wo ihre Intention auf ihn selbst geht, in ihm, wie er ist, die Erfüllung findet« (Log. Unters. I, 122. vgl. W. JERUSALEM, Urteilsfunct.). Nach JODL sind innere Wahrnehmungen »alle diejenigen Erregungen unseres Bewußtseins, in welchen wir lediglich unsere eigenen Zustände zu erfahren und anzuschauen glauben« (Lehrb. d. Psychol. S. 108). WUNDT erklärt: »Jeder subjective Zustand unseres Bewußtseins ist als solcher Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung« (Log. I, 424). Die innere Wahrnehmung besteht in der Tatsache des psychischen (s. d.) Erlebens selbst, hat daher unmittelbare Realität (s. Psychologie, Seele, Erfahrung). – Nach M. PALÁGYI ist die sog. innere Wahrnehmung schon der Verstand, »Reflexion auf die Modificationen unseres Bewußtseins« (Der Streit, S. 86). »Versteht man unter der Innerlichkeit einer Wahrnehmung den ausschließlichen persönlichen Besitz derselben, dann ist eine jede Wahrnehmung innerlich« (Log. auf d. Scheidewege S. 105). Es gibt keinen Gegensatz von äußeren und inneren Wahrnehmungen. »Es gibt Eindrücke und Erinnerungen. Es gibt ein Urteilen, sowie noch ein Urteilen über das Urteilen, d.h. es gibt eine directe und eine inverse Besinnung« (l. c. S. 240). – Vgl. Erfahrung, Beobachtung, Erscheinung, Ich, Selbstbewußtsein, Psychisch, Psychologie, Kategorien, Kraft, Causalität, Substanz.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 701-707.
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