Balken [1]

[503] Balken (Balkenträger) nennt man in der Ingenieurmechanik solche ebene Träger (s.d.), bei welchen durch beliebige Belastung nur vertikale Stützenreaktionen entstehen, im Gegensatze zu Bogen, bei denen im gleichen Falle auch horizontale Stützenreaktionen auftreten. Der Wegfall horizontaler Drücke auf die Stützen (denen die Stützenreaktionen entgegenwirken) ist günstig für die Stabilität der Stützen und fällt besonders dann ins Gewicht, wenn man mit schmalen Pfeilern und Widerlagern auskommen muß oder der Fundamentboden wenig Widerstand bietet. Mit Rücksicht hierauf wurden selbst dann mitunter Balkenträger angeordnet, wenn aus ästhetischen Gründen Bogenformen Verwendung fanden (Müllerstraßenunterführung in Berlin, Limmatbrücke in Zürich u.s.w.). Man erhält z.B. stets Balkenträger, wenn nur bei einer Stütze horizontaler Bewegung des Trägers widerstanden wird (s. Auflager). Der Balken heißt ein einfacher Balken oder ein durchlaufender (kontinuierlicher) Balken, je nachdem er sich über eine Oeffnung oder über zwei und mehr durch Stützen getrennte Oeffnungen erstreckt.

Wir setzen im folgenden nur vertikale Aktivkräfte (Lasten) voraus. Für die Berechnung stabförmiger Balken, die nicht als Fachwerke gegliedert sind (s. Balkenfachwerke), sondern mit voller Wand hergestellt werden, kommen dann in erster Linie das Angriffsmoment Mx und die Vertikalkraft Vx in Betracht, während die horizontale Schnittkraft Hx = 0 ist (s. Angriffsmoment, Biegung, Blechträger).

Man fasse einen Stababschnitt zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden Stützpunkten ins Auge (Fig. 1 und 2), der auch der ganze Stab sein kann (einfache Balken). Der Horizontalabstand l der Stützpunkte (diese stets in der Stabachse gedacht) heißt die Spannweite. Ein rechtwinkliges Koordinatensystem mit horizontaler x-Achse und vertikaler y-Achse in der Trägerebene werde in fester Lage gegen die anfängliche (dem spannungslosen Zustande bei normaler Temperatur entsprechende) Gruppierung der Stabpunkte angenommen. Ursprung der Koordinaten in der Vertikalen durch einen Stützpunkt, die Querschnitte werden nach den anfänglichen Abszissen x ihrer Achspunkte bezeichnet, für den Querschnitt beim zweiten Stützpunkt ist x = l. Zwischen 0 und l mögen bei den Abszissen a1 a2, ... beliebige Lasten P1, P2, ... angreifen, wobei die P und Differenzen der a auch unendlich klein sein können (stetig verteilte Lasten, s. Belastung der Träger). Die Mx, Vx wie alle Schnittkräfte werden im folgenden für die Fläche links des Querschnitts x ausgedrückt (vgl. Fig. 1 und 2), für die Fläche rechts von x sind sie numerisch gleich, aber entgegengesetzt gerichtet. Für x = 0 und x = l seien die Werte von Mx durch M, M', und diejenigen von Vx durch V, – V' bezeichnet. Die positiven Richtungen von x, Mx, Vx, V, V' sind in Fig. 1 und 2 angedeutet. Dann hat man:


Balken [1]

d.h.: die Summe der Vertikalreaktionen gegen einen Balken oder Balkenabschnitt ist gleich der Belastung desselben. Moment und Vertikalkraft in einem beliebigen Querschnitt x:[503]


Balken [1]

Normalkraft und Transversalkraft (Tangentialkraft, Querkraft, s. Angriffsmoment) daselbst:

Nx = Vx sinφ,

Tx = Vx cosφ,

6.


also für den gewöhnlichen Fall horizontaler Balken mit φ = 0:

Nx = 0,

TX=VX.

In 1.–5. bezeichnen die Grenzen der Summen Σ diejenigen Querschnitte, zwischen denen die in die Summen aufzunehmenden Lasten P auf den Träger kommen. Sind die Querschnitte vertikal (horizontale Balkenträger) oder von so kleiner Horizontalprojektion, daß man an Stelle der Schnitte x die Abszissen x ihrer Achspunkte setzen darf, so folgt aus 4. (vgl. Belastung der Träger):


Balken [1]

Dies sei im folgenden vorausgesetzt. Nach 5. ändert sich die Vertikalkraft Vx mit wachsendem x fortwährend in negativem Sinne, sie durchschreitet den Wert 0 an derjenigen Stelle


Balken [1]

d.h. wo die Summe der von 0 nach l hin addierten Lasten den Wert V durchschreitet, und die Grenzwerte von Vx treten, als V und – V', stets bei den Stützen ein. Das Moment Mx wächst nach 7. von x = 0 an in positivem Sinne, solange Vx positiv ist, es erreicht bei x = μ sein positives Maximum und ändert sich dann in negativem Sinne bis x = l, so daß die Grenzwerte von Mx stets als und M oder M' eintreten. Die Stützenmomente M, M' pflegen entweder negativ (eingespannte Enden, Zwischenstützen durchlaufender Balken) oder gleich 0 zu sein (frei drehbare Enden). Trägt man bei jeder Abszisse x die entsprechenden Werte von Mx, Vx als Ordinaten an, so entstehen Kurven der Momente und Vertikalkräfte (Fig. 3). Nach 7. ist an jeder Stelle x die Tangente des Neigungswinkels der Momentenkurve gleich der Vertikalkraft. Zwischen je zwei aufeinander folgenden P bildet die Kurve der Vx eine horizontale Gerade, die Kurve der Mx im allgemeinen eine geneigte Grade. Ist die Belastung auf einer Strecke stetig verteilt, so werden daselbst jene Geraden unendlich klein; bei gleichmäßig verteilten Lasten beispielsweise wird die Kurve der Vx eine geneigte Gerade, die Kurve der Mx eine Parabel (Fig. 4). Für den gewöhnlichen einfachen Balken mit frei drehbaren Enden fallen die Kurvenpunkte M, M' mit den Punkten 0, l der Abszissenachse zusammen.

In obigen Gleichungen hängen die Ausdrücke der Stützenmomente M, M' von der Anordnung des Balkens ab. Soweit dieselben nicht 0 sind, setzen wir im folgenden die Stabachse so wenig von einer Horizontalen abweichend voraus, daß tgφ gegen 1 vernachlässigt werden kann, unter φ den Winkel der Stabachse mit der horizontalen x-Achse verstanden (horizontale Balken, über allgemeinere Fälle s. [2] A 51, 54), und zwar auch nach der Deformation. Für einen einfachen Balken mit beiderseits frei drehbaren Enden (Fig. 5) hat man:

M = 0,

M' = 0,

9.


und damit nach 1., 2. die Stützenreaktionen:


Balken [1]

sowie nach 4., 5. das Moment und die Vertikalkraft in einem beliebigen Querschnitte x:


Balken [1]

Für den einfachen Balken mit einem festgespannten und einem freischwebenden Ende (Fig. 6) sind


Balken [1]

(Näheres über eingespannte Enden s. Einspannung). – Für den beiderseits festgespannten einfachen Balken hat man in dem (gewöhnlich angenommenen) Falle, daß die Einspannung im[504] spannungslosen Zustande mit horizontaler oder doch gerader Achse erfolgt (Fig. 7), abgesehen vom Einfluß der Schubkräfte Vx (s. unten):


Balken [1]

Andernfalls sind den rechten Seiten dieser Gleichungen noch beizufügen:


Balken [1]

worin E der Elastizitätsmodul, I das Trägheitsmoment, c' der Wert von y für x = l und β,β' die Tangenten der Einspannungswinkel, d.h. die Werte von dy/dx für x = 0 und l bedeuten (s. Elastische Linie). Für den einfachen Balken mit einem festgespannten und einem frei drehbaren Ende sind bei Einspannung und Lagerung mit gerader Achse (Fig. 8), abgesehen vom Einfluß der Schubkräfte Vx (s. unten):


Balken [1]

Im allgemeineren Falle ist dem Ausdrucke von M noch beizufügen:

+ c'/l) 3EJ/l

Für einen durchlaufenden Balken mit beliebig vielen Oeffnungen seien die Indices der verschiedenen Größen entsprechend Fig. 9 gewählt, womit sie in der Umgebung einer beliebigen Stütze r wie in Fig. 10 werden. Man hat dann, abgesehen vom Einfluß der Schubkräfte Vx (s. unten), zur Berechnung von n Momenten über den Zwischenstützen ebensoviele Gleichungen von der Form:


Balken [1]

worin Σr sich auf alle Lasten in der Oeffnung lr bezieht, also den Wert von Balken [1] für die Oeffnung lr vertritt, während nacheinander r = 1, 2, ... n zu setzen ist. In dem gewöhnlichen Fall frei drehbarer Enden sind die Momente über den Endstützen:

M0 = 0,

Mn + 1 = 0.

19.


Werden jedoch die Enden festgespannt, dann kommen diese Momente als weitere Unbekannte in Betracht, wofür auch zwei weitere Gleichungen bestehen:


Balken [1]

Die Gleichungen 18, 20, 21 setzen voraus, daß die Stabachse im spannungslosen Zustande eine horizontale oder geneigte Gerade bildet. Trifft dies nicht zu, so sind den rechten Seiten der Gleichungen beizufügen:


Balken [1]

unter β0, βn + 1 die Tangenten der Einspannungswinkel verbanden. Schließlich hat man die Reaktion einer beliebigen Stütze r:

Rr = Vr + V'r 1,

22.


und die Reaktionen der Endstützen (bezüglich eingespannter Enden s. Einspannung)

R0 = V0,

Rn + 1 = V'n.

23.


[505] Die Formeln für die Stützenmomente M von 16. an sind unter Voraussetzung eines konstanten EJ abgeleitet, sie genügen aber auch für die gewöhnlichen Fälle eines veränderlichen Querschnitts (vgl. [1] §§ 51, 52). Es ist ferner dabei der Einfluß der Schubkräfte Vx auf die Formänderungen und durch letztere auf die (statisch unbestimmten) Stützenmomente vernachlässigt. Diese übliche Vernachlässigung ist zwar im allgemeinen zulässig bei der Berechnung von Beanspruchungen, nicht aber ohne weiteres bei Ermittlung der Einsenkung und sonstiger Formänderungen. Wir werden daher die Ausdrücke zur Berechnung der Stützenmomente M mit Rücksicht auf den Einfluß der Schubkräfte Vx zur Vermeidung von Wiederholungen in dem Artikel Elastische Linie geben. Sind die M nach diesen Ausdrücken anstatt nach 16.–21. festgestellt, so gelten für die übrigen Größen Vx, Mx, V,V' u.s.w. dieselben Gleichungen wie ohne Berücksichtigung des Einflusses von Vx auf die Stützenmomente. Alle obige Formeln lassen beliebige Belastung zu, über spezielle Belastungsarten und bewegte Lasten s. Belastung der Träger, Balken, einfache, und Balken, durchlaufende, über die Spannungen in Balken s. Biegung I. Weiter s. Blechträger, Balkenfachwerke, Gelenkträger, Körper von gleichem Widerstande, Elastische Linie, Einsenkung.

Die größte vorkommende Spannweite eines Balkenträgers ist gegenwärtig 167,64 m (Grand River-Brücke bei Galt, Kanada, erbaut 1879), in Europa 154,5 m (Leckbrücke bei Kuilenburg in Holland, 1867–68), in Deutschland 129 m (Weichselbrücke bei Dirschau, 1891–92). Dabei ist abgesehen von kontinuierlichen Gelenkträgern, die zurzeit mit 521,2 m (zwischen den Pfeilermitten 583 m) die größte Spannweite überhaupt aufweisen (Forth-Brücke bei Queensferry in Schottland, 1883–90). Alle diese Träger sind jedoch als Fachwerke angeordnet. Die größte Spannweite einer vollwandigen Balkenbrücke beträgt 140,2 m (Britanniabrücke, über die Menaibai in England, 1846–50), sie bildet eine rechteckige Röhre, während vollwandige Träger über den Lorenzostrom in Amerika, den Niemen in Rußland und die Garonne in Frankreich Spannweiten von 91,3 m, 75 m und 74,2 m besitzen [3]–[5].


Literatur: [1] Weyrauch, Allgemeine Theorie und Berechnung der kontinuierlichen und einfachen Träger, Leipzig 1873. – [2] Ders., Aufgaben zur Theorie elastischer Körper, Leipzig 1885, A 44, 46, 47, 51, 54. – [3] Sehfehlner, Beiträge zu den bei eisernen Balkenbrücken vorkommenden Berechnungen, Allgemeine Bauztg. 1893, S. 25, 33, 49, 57, 73, 89. – [4] Mehrtens, Der deutsche Brückenbau im 19. Jahrhundert, Berlin 1900 (auch Zeitschr. d. Vereins deutscher Ingenieure 1900). – [4] Weyrauch, Ueber die Zunahme der Brückenspannweiten im 19. Jahrhundert, Zeitschr. f. Bauwesen 1901, S. 465, 617. – Weitere Literatur s. Balken, einfache, Balken, durchlaufende, Balkenfachwerke, Blechträger.

Weyrauch.

Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 1., Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 6.
Fig. 7., Fig. 8.
Fig. 7., Fig. 8.
Fig. 9.
Fig. 9.
Fig. 10.
Fig. 10.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1904., S. 503-506.
Lizenz:
Faksimiles:
503 | 504 | 505 | 506
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon