[229] Einflußlinien (Influenzlinien). Läßt man eine Last P = 1 auf einem Träger nacheinander alle Lagen einnehmen und trägt zu jeder Abszisse a der Last den für diese Lage entgehenden Beitrag der Last 1 zu irgend einer Einwirkung B (Moment, Stabkraft, Einsenkung, Stützenreaktion u.s.w.) als Ordinate an (Fig. 1), so entsteht eine Einflußlinie der Größe B. Eine bei a liegende [229] Last P liefert zu B den Beitrag P b, wenn b die Ordinate der Einflußlinie bei a bezeichnet, und als Beitrag einer beliebigen Lastenfolge zwischen den Punkten der Abszissen v und w hat man
es sind also einfach die Lasten mit den Ordinaten der Influenzlinie bei ihren Angriffspunkten (Fig. 1) zu multiplizieren und diese Produkte zu summieren. Verfährt man so mit allen Lasten auf dem Träger, so erhält man den ganzen Wert der Einwirkung B. Ist die Belastung auf einer Strecke von v bis w gleichmäßig verteilt, so folgt ([10], S. 29):
worin p die Belastung pro Längeneinheit, F die Einflußfläche (Influenzfläche) zwischen den Ordinaten bei v und w bezeichnen (in Fig. 1 schraffiert). Ist der allgemeine Ausdruck einer Größe B für beliebige Belastung gegeben, dann entsteht obiger Definition zufolge die Einflußlinie von B, wenn man bei jeder Abszisse a die Ordinate b gleich dem Faktor macht, mit welchem P für diese Stellung a im Ausdrucke von B multipliziert erscheint.
Für den gewöhnlichen horizontalen Balkenträger mit beiderseits frei drehbaren Enden (s. Balken, Bd. 1, S. 504) beispielsweise entliehen durch beliebige, bei Abszissen a auf den Träger kommende Lasten die Stützenreaktionen bei 0 und l:
Für eine Einzellast P bei a hat man also
wonach mit P = l die Gleichungen der Einflußlinien
Diese b sind aber die Faktoren von P in den allgemeinen Ausdrücken von V, V'. Für denselben Träger ist bei beliebiger Belastung das Moment in einem beliebigen Querschnitt x:
und die Vertikalkraft in diesem Querschnitt:
Demgemäß erhalten wir als Gleichungen der Einflußlinien von a = 0 bis a = x von a = x bis a = l für Mx:
für Vx:
Die Einflußlinien für V, V', Mx, Vx sind den abgeleiteten Gleichungen entsprechend in Fig. 2, 3 und 4 verzeichnet. Während hier, wie bei statisch bestimmten Größen überhaupt (Größen, die sich aus der Statik allein, ohne Zuhilfenahme der Elastizitätstheorie, bestimmen lassen), die Einflußlinien aus geraden Strecken bestehen, pflegt dies für statisch unbestimmte Größen nicht[230] der Fall zu sein. Nach Bd. 2, S. 158 läßt sich der Horizontalschub eines symmetrischen parabolischen Bogens mit Kämpfergelenken von der Spannweite l und dem Pfeile f ausdrücken:
woraus die Gleichung der Einflußlinie von H:
Für die Vertikalreaktionen V, V' der Kämpfer gelten wieder die obengegebenen Gleichungen, so daß auch deren Einflußlinien wie dort verlaufen. Die Linien sind in Fig. 5 für einen Bogen der neuen Cannstatter Neckarbrücke dargestellt unter Beifügung der Einflußlinien für das Moment Mx, die Normalkraft Nx und die Normalspannungen σo, σu im obersten und untersten Querschnittselement bei x = l/2 (vgl. Bogen, Bd. 2, S. 142). Fig. 6 zeigt die Influenzlinien des Horizontalschubes H, der Vertikalreaktionen V, V' und der Endmomente M, M' eines Bogens ohne Gelenke (Bruchsteinversuchsgewölbe des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins). In Fig. 7, 8 schließlich sind für einen durchlaufenden Balkenträger von vier Oeffnungen (s. Balken, durchlaufende, Bd. 1, S. 507) die Einflußlinien der Momente Mx in den angedeuteten Querschnitten I-IV und der Vertikalkraft Vx in einem derselben verzeichnet.
Der Beitrag einer Last P und die Einflußfläche bei a sind positiv oder negativ, je nachdem die Einflußlinie daselbst auf der positiven oder negativen Seite der Abszissenachse liegt (Fig. 1). Die Durchschnittspunkte der Einflußlinie mit der Abszissenachse bilden die Grenzpunkte der positiven und negativen Beitragsstrecken. Auf jeder Beitragsstrecke einerlei Sinnes heißt derjenige Punkt i, bei dem die Ordinate b und damit der Beitrag einer Last P größer als an allen andern Stellen der Strecke wird (Fig. 1), der Einflußpunkt (Influenzpunkt) der betreffenden Strecke. Wird ein Teil der Belastung nur in bestimmten Knotenpunkten auf den betrachteten Träger übertragen (durch Querträger), so verläuft die entsprechende Einflußlinie zwischen je zwei aufeinander folgenden dieser Knotenpunkte stets geradlinig [6], S. 220, [10], S. 30 (vgl. Fig. 5). Hiernach könnten die Ordinaten der Einflußlinien für gleiche Abszissen a je nach der Uebertragungsart der Lasten verschieden ausfallen. Für den obenerwähnten gewöhnlichen Balken beispielsweise hat man die Einflußlinie von Mx entsprechend Fig. 3, wenn die Lasten unmittelbar auf den Träger kommen, dagegen wie in Fig. 9, wenn die Lasten nur bei den angedeuteten Knotenpunkten übertragen werden [11], S. 17. Es könnte also bei Brückenträgern insbesondere die Einflußlinie der Fahrbahnlast von derjenigen des Eigengewichts abweichen. Praktisch interessiert jedoch nur die Einflußlinie der bewegten Last, die eindeutig bestimmt ist. Ueber die Verwendung der Einflußlinien zur Bestimmung der Grenzbeanspruchungen u.s.w. s. Grenzwerte. Das Verfahren ist, wie der Name Einflußlinie (Influenzlinie), vom Verfasser in [3], [4] eingeführt worden.
Literatur: [1] Winkler, Vortrag über die Berechnung der Bogenbrücken, Mitteilungen des Arch.- u. Ing.-Ver. f. Böhmen 1868, S. 6 (Spannungskurven des Bogens). [2] Mohr, Beitrag zur Theorie der Holz- und Eisenkonstruktionen, Zeitschr. des Arch.- u. Ing.-Ver. zu[231] Hannover 1868, S. 19 (s. S. 42). [3] Weyrauch, Allg. Theorie und Berechnung der kontinuierlichen und einfachen Träger, Leipzig 1873, S. 50, 54, 58, 62, 101, 166. [4] Ders., Die Maximalmomente einfacher Träger bei festen und mobilen Lastsystemen, Zeitschr. des Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1875, S. 467. [5] Fränkel, Ueber die ungünstigste Einstellung eines Systems von Einzellasten auf Fachwerkträgern mit Hilfe von Influenzkurven, Civilingenieur 1876, S. 441. [6] Melan, Beitrag zur graphischen Behandlung der Fachwerkträger mit Zugrundelegung des Prinzips der Influenzkurven, Zeitschr. des Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1880, S. 219. [7] Winkler, Ueber die Belastungsgleichwerte der Brückenkonstruktionen, Zentralblatt der Bauverwaltung 1884, S. 460, 465. [8] Barkhausen, Auftragen von Einflußlinien für Bogen, Zeitschr. des Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 1885, S. 159. [9] Winkler, Theorie der Brücken, Heft 1, Wien 1886, S. 27, 53, 81, 124, 326. [10] Weyrauch, Theorie der statisch bestimmten Träger für Brücken und Dächer, Leipzig 1887, §§ 11, 12, 2325, 5759, 6668. [11] Ders., Beiträge und Aufgaben zur Berechnung der statisch bestimmten Träger, Leipzig 1888, S. 11, 13, 17, 36, 58. [12] Land, Ueber die Ermittlung und die gegenseitigen Beziehungen der Einflußlinien für Träger, Zeitschr. für Bauwesen 1890, S. 105. [13] Charot et Portes, Calcul des Ponts métalliques à poutres droites à une ou plusieurs travées par la méthode des lignes d'influences, Paris 1895. [14] Mehrtens, Summeneinflußlinien und A-Polygone, Zentralblatt der Bauverwaltung 1897, S, 178. [15] Bittnerr Einflußlinien für die Spannungen der Gitterstäbe beim Parabelträger, Zeitschr. des österr. Ing.- u. Arch.-Ver. 1897, S. 449. [16] Land, Die Einflußlinie der Spannkraft eines Zwischenstabes für ein einfaches Fachwerk, Zentralblatt der Bauverwaltung 1897, S. 466. [17] Müller-Breslau, Die graphische Statik der Brückenkonstruktionen, I, Leipzig 1901, S. 115, 128, 164, 234, 330. [18] Handbuch der Ingenieurwissenschaften, Bd. 2, Abt. 2, Leipzig 1901, S. 267, 273, 281, 299, 312. [19] Engesser, Zur Bestimmung der ungünstigsten Laststellung mit Hilfe der Einflußlinien, Zentralblatt der Bauverwaltung 1902, S. 510. [20] Müller-Breslau, Ueber parabelförmige Einflußlinien und die Berechnung des Zweigelenkbogens, Zentralblatt der Bauverwaltung 1903, S. 113; s. auch Brabandt, Zentralblatt der Bauverwaltung 1904, S. 561. [21] Griot, Interpolierbare Tabellen zum raschen Auftragen der Einflußlinien (für durchlaufende Balken konstanten Trägheitsmoments), Zürich 1904. [22] Ostenfeld, Technische Statik, Leipzig 1904, S. 6, 29, 46, 6, 378. [23] Mehrtens, Vorlesungen über die Statik der Brückenkonstruktionen, II, Leipzig 1904, S. 3, 65, 100, 108, 113, 120,122, 151, 179. [24] Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre, Leipzig 1904, S. 49, 58.
Weyrauch.
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