Fließfiguren

[88] Fließfiguren, Erscheinungen, die, mit bloßem Auge wahrnehmbar, an der Oberfläche fester Körper bei deren mechanischer Beanspruchung zutage treten, sobald die Beanspruchung die Fließgrenze des Materials überschreitet.

Ist die Oberfläche des beanspruchten Körpers unbearbeitet, z.B. bei Walzeisen mit Sogenanntem Hammer Schlag überzogen, So zeigen die Fließfiguren Sich darin, daß die Hammerschlagschicht, weil sie Spröde und weniger formänderungsfähig ist als das darunterliegende[88] Metall von diesem abspringt und helle Streifen hinterläßt. Derart sind die Fließfiguren zuerst von Lüders beobachtet und als »Abwurffiguren« bezeichnet [1]. Unter Einwirkung feuchter Luft roste die von »dem Hammerschlag befreiten Stellen leicht und die Fließfiguren treten dann durch die Rostfärbung meist sehr scharf hervor (s. Fig. 1). War die Oberfläche des Stückes vor der Beanspruchung sauber poliert, so geben die Fließfiguren sich durch Spiegelungen zu erkennen, welche davon herrühren, Massenteilchen gegen die ursprünglich ebene Oberfläche zurücktreten und zwar zuweilen so weit, daß man die Unebenheiten fühlen kann. Nach Ewing und Rosenhain die auf Zug Druck und Verdrehen beanspruchte Proben mikroskopisch beobachteten, gleiten mit dem Beginn der bleibenden Formänderungen die einzelnen Teile der Körner in zueinander parallel stehenden Ebenen (s Fig. 2) [2], [3]. Pohlmeyer erhielt sehr scharfe Fließfiguren dadurch, daß er die bearbeitete Oberfläche der Probestäbe vor der Beanspruchung durch Glühen in Wasserdampf mit der sogenannten Barffschen Schicht überzog, die dann beim Versuch in scharf begrenzten Streiten absprang (s. Fig. 3) [4]. Hartmann [5], [6] berichtet über Vergehe der französischen Artillerie, bei denen zur Hervorbringung der Fließfiguren polierte Stahlstäbe vor der Beanspruchung bei 100–2000 C. schwach anlaufen gelassen und nach der Beanspruchung mit sehr seinem Schmirgelpapier abgerieben wurden.

Im wesentlichen bestehen die Fließfiguren aus nebeneinander verlaufenden und sich kreuzenden Liniensystemen, deren Form von der Art der Beanspruchung abhängt Bei Zerreißversuchen mit Flachstäben z.B. treten sie häufig zuerst als einzelne schmale Streifen auf (Fig. 4), und zwar meist in der Nähe eines Stabkopfes oder beider Kopfe zugleich. Die Streifen bilden hierbei mit der Zugrichtung (Stabachse) Winkel von etwas über 45« und lassen sich meist auf allen vier Flächen um den Stab herum verfolgen Bleibt das Spannwerk der Maschine in Tätigkeit, so verbreitern sich die Streifen entweder oder es treten in mehr oder weniger großem Abstande von den zuerst entstandenen oder quer zu ihnen neue Streifen auf, stetig oder sprungweise fortschreitend über die ganze Länge des Stabes (s. Fig. 5). Die weitere Ausbildung der Fließfiguren beim Zerreißversuch ist, wie Fig. 611 zeigen, außerordentlich verschieden. Die Ursachen für diese verschiedenartige Ausgestaltung bei gleich artiger Beanspruchung sind noch nicht erforscht; wahrscheinlich sind sie in ungleichmäßiger Spannungsverteilung sowie in der vorausgegangenen mechanischen Bearbeitung und Wärmebehandlung des Materials und in dessen mehr oder weniger gleichmäßigen chemischen Zusammensetzung[89] zu suchen. So zeigen z.B. die moiréartigen Fließfiguren Fig. 11 auffallende Aehnlichkeit mit dem Aussehen der Staboberfläche Fig. 12, das lediglich beim Abarbeiten auf der Hobelmaschine entstanden und eine Folge ungleichmäßiger chemischer Zusammensetzung (Phosphorabsonderungen) ist. Wird das Spannwerk der Maschine während des Entstehens der Fließfiguren mit gleichbleibender, mäßiger Geschwindigkeit betrieben, d.h. der Probestab langsam gedehnt, so pflegt die hierzu erforderliche Kraft etwas geringer zu sein, als die Kraft beim Entstehen der ersten Fließfiguren war. Zuweilen schwankt sie auf und ab. Ihr stetiges Anwachsen bis zur Höchst- und Bruchlast tritt erst dann wieder ein, wenn die Fließfiguren über den ganzen Stab sich erstrecken. Mit dem stetigen Anwachsen der Kraft verschwinden die Fließfiguren auf den polierten Oberflächen wieder; die Oberfläche bekommt ganzloses, rauhes Aussehen.

Hartmann [5] behandelte die glattpolierte Oberfläche seiner Probestäbe während der Beanspruchung mit verdünnten Säuren und beobachtete hierbei:

1. daß gleiche Linien wie bei den Fließfiguren schon vor Ueberschreitung der Streckgrenze auftreten;

2. daß die Zahl der Linien mit wachsender Belastung zunimmt, daß aber die einzelnen Linien ihre ursprüngliche Neigung zur Kraftrichtung dauernd beibehalten und daß diese Neigungsrichtung auch in dem Verlauf der Anbrüche und Bruchflächen zutage tritt;

3. daß die Größe des Neigungswinkels dem Material eigentümlich und bei gleichmäßiger Belastung von der Form des Körpers und der Geschwindigkeit der Beanspruchung unabhängig ist.

Hartmann folgert hieraus, daß die äußere Kraft auf diejenigen Materialteilchen wirkt, die zur Kraftrichtung in einem bestimmten Winkeln liegen, und daß die Linien die Richtung angeben, in der die Kraftvermittlung in dem beanspruchten Material erfolgt. Er nennt sie daher »Kraftlinien«. In ihrem Auftreten stellte er zuerst folgende Gesetzmäßigkeit fest: Bei reiner Zugbeanspruchung entstehen auf der Oberfläche der Flachstäbe zwei geradlinige regelmäßige Liniensysteme, die sich kreuzen und mit der Kraftrichtung einen Winkel α bilden, der bei Metallen größer ist als 45°. Bei zylindrischen Zerreißstäben sind die Kraftlinien Schraubenlinien, deren Tangenten mit der Erzeugenden des Zylinders ebenfalls den Winkel α bilden. Bei Druckbeanspruchung verlaufen die Kraftlinien nur dann regelmäßig, wenn die Höhe oder Länge des Probestückes nahezu gleich dessen Breite ist. Auf den vier Seitenflächen der Würfel entstehen dann wieder zwei sich kreuzende Systeme gerader paralleler Linien; ihre Neigung zur Kraftrichtung ist aber nicht wie beim Zugversuch größer, sondern kleiner als 45°. Analog zeigen die Mantelflächen zylindrischer Druckproben wieder Schraubenlinien, gleichgültig, ob die Zylinder aus einem Stück bestehen oder aus einzelnen Scheiben zusammengesetzt sind; auf den kreisrunden Endflächen der Scheiben entstehen logarithmische Liniensysteme Die Kraftlinien auf der Oberfläche von Kugeln mit zwei angearbeiteten parallelen Druckflächen sind sich kreuzende sphärische Spiralen, deren Tangenten in den Schnittpunkten einen Winkel bilden, der kleiner ist als 90°. Bei teilweiser Belastung oder wenn neben der äußeren Kraft die Formänderung hindernde Kräfte einwirken, verlaufen die Kraftlinien nicht parallel, ihre Form hängt dann von der Natur der hindernden Kräfte ab. – Stoßweise wirkende Kräfte verursachen Kraftlinien gleicher Art wie langsam wirkende Kräfte; die Länge der Linien nimmt aber bei gleicher Schlagarbeit ab mit wachsender Geschwindigkeit oder abnehmender Dauer des Stoßes oder Schlages; die Geschwindigkeit, mit der die Kraft im Material vermittelt werden kann, ist also beschränkt.

Der vorerwähnte Einfluß der die Formänderung hindernden Kräfte auf die Art der Fließfiguren tritt deutlich bei der Abbildung (Fig. 13) eines Stabes zutage, dessen Breite bei gleicher Dicke von dem einen nach dem andern Ende hin abgestuft war und der so weit belastet wurde, bis der stärkste Teil gerade zu fließen begann [7]. Bei dieser Stabform wird die Belastung von dem schmäleren Stabteil nicht in ganzer Breite auf den breiteren übertragen, so daß die Formänderung des letzteren durch den Widerstand seiner nicht unmittelbar beanspruchten Teile behindert ist. Man erkennt aus Fig. 13, daß hierbei Hauptgruppen von Streifungen entstanden, nämlich 1. die annähernd unter 45° zur Stabachse geneigten und 2. die von diesem abzweigenden und nahezu senkrecht zur Stabachse gerichteten. Die ersteren zeugen davon, daß beim Fortschreiten des Fließens von dem schmälern Stabteil zum breiteren in letzterem zuerst Fließen infolge der Schubspannungen eintritt und daß die stärksten Schubspannungen von den beiden Abstufungsecken ausgehen. Der von den Flächen mit größter Schubspannung begrenzte dreieckige Teil wird gewissermaßen aus dem Ganzen herausgezogen. Außerhalb dieses Dreiecks ist die rechts und links nur je eine, ebenfalls auf Schubspannungen deutende Linie wahrzunehmen, alle übrigen Fließfiguren liegen innerhalb des Dreiecks. In letzterem ist also das Material zuerst geflossen und demnach am stärksten beansprucht gewesen. Hierbei zeugen die schräg zur Stabachse stehenden Streifungen wieder von Schubspannungen, während die Querstreifungen durch Ueberschreiten der Streckgrenze infolge von Zugspannungen entstanden sein dürften. Da nun die Stablängen innerhalb des Dreiecks nach der Stabmitte hin wachsen, so werden die Zugspannungen demgemäß geringer, woraus das allmähliche Verschwinden der Querstreifungen nach der Stabmitte hin erklärt werden kann. Beachtet man ferner, daß der schmälere Stabteil an den Rändern nur auf verhältnismäßig kurze Strecken Fleißfiguren zeigt, so ist erklärlich, weshalb Brüche an[90] Konstruktionsteilen besonders dort vorkommen, wo schroffe Querschnittswechsel vorhanden sind. Dieses Beispiel zeigt, wie die Lage und der Verlauf von Fließfiguren auf der Oberfläche im Betriebe gebrochener Konstruktionsteile Fingerzeige bieten können, den Ursachen der Zerstörung durch Ueberanstrengungen nachzugehen.

Eingehende Erörterungen über die Entstehung der Fließfiguren und die vermeintlichen Ursachen ihres verschiedenartigen Verlaufes auf Grund der Beobachtungen in der ehemaligen Mechanisch-technischen Versuchsanstalt zu Charlottenburg finden sich in den. Arbeiten von Kirsch [8], Martens [4], [9] und Rudeloff [7]. Eine sehr ausführliche beachtenswerte Darlegung der Ursachen und Gesetze für die Entstehung der Kraftlinien gibt Rejtö [6], indem er seine Darlegungen über die molekulare Kraftvermittlung und innere Reibung fester Körper [10], [11] mit den Betrachtungen von Hartmann [5] in Beziehung bringt.


Literatur: [1] Lüders, Ueber die Aenderung der Elastizität an stahlartigen Eisen- und Stahlstäben und über eine beim Biegen solcher Stäbe beobachtete Molekularbewegung, Dinglers Polyt. Journal 1860, Bd. 155, S. 18. – [2] Nature, 18. Mai 1899. – [3] Versuchsergebnisse betreffs der Kraftvermittlung, Gefügeänderung und Verschiebung, Baumaterialienkunde 1899, S. 365. – [4] Martens, Materialienkunde für den Maschinenbau, S. 67. – [5] Hartmann, Distribution des déformations dans les métaux soumis à des efforts, Paris 1896. – [6] Ueber die Entstehung der Kraftlinien an den Oberflächen der beanspruchten Körper, Baumaterialienkunde 1898/99, Bd. 3, S. 77. – [7] Rudeloff, Untersuchungen über den Einfluß vorausgegangener Formänderungen auf die Festigkeitseigenschaften der Metalle, Mitteilungen aus den Kgl. techn. Versuchsanstalten, 1901, I. Ergänzungsheft. – [8] Kirsch, Beiträge zum Studium des Fließens insbesondere beim Eisen und Stahl, ebend., 1888, S. 37. – [9] Martens, Untersuchungen mit Eisenbahnmaterial, ebend., 1890, II. Ergänzungsheft. – [10] Rejtö, A., Innere Reibung fester Körper als absolute Eigenschaft und die mit Hilfe derselben abgeleiteten Formeln der Zug- und Druckdiagramme, Baumaterialienkunde 1897/98, Bd. 11, S. 231. – [11] Kick, Fr., Ueber den Kongreß des Internationalen Verbandes für Materialprüfung in Stockholm, ebend., Bd. 2, S. 301.

Rudeloff.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 2.
Fig. 3., Fig. 4., Fig. 5.
Fig. 3., Fig. 4., Fig. 5.
Fig. 6–11.
Fig. 6–11.
Fig. 12.
Fig. 12.
Fig. 13.
Fig. 13.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 88-91.
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Faksimiles:
88 | 89 | 90 | 91
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