[638] Nitrokohlenwasserstoffe, aromatische. Die fabrikmäßig aus Benzol Toluol, Xylol, Butylbenzol und Naphthalin erzeugten aromatischen Nitrokohlenwasserstoffe werden teils als Materialien für die Teerfarbenindustrie, teils als Explosivstoffe und teils zu Parfümeriezwecken benutzt. Die weitaus größten, nach Dutzenden von Tonnen pro Tag sich beziffernden Quantitäten finden in dem zuerst erwähnten Sinn Verwendung, und im Vergleich hiemit ist der anderweitige Verbrauch ein sehr geringer.
Die zur Gewinnung dieser Produkte dienende Methode beruht darauf, daß die genannten Kohlenwasserstoffe, wie die meisten übrigen aromatischen Verbindungen, Wasserstoffatome gegen Nitrogruppen unter gleichzeitiger Bildung von Wasser austauschen, wenn sie innerhalb gewisser Temperaturgrenzen mit Salpetersäure von geeigneter Konzentration in Berührung gelangen. In je 1 Molekül Benzol, Toluol, Xylol und Butyltoluol lassen sich mit Hilfe von Salpetersäure 13, in einem Molekül Naphthalin 14 Wasserstoffatome durch die gleiche Anzahl von Nitrogruppen ersetzen, und der Eintritt dieser Gruppen in die Kohlenwasserstoffe mit höherem Molekulargewicht geht leichter als in die niedrigmolekularen von statten. Sofern Salpetersäure auf Naphthalin unter Bildung von Mononitronaphthalin einwirkt, entsteht ausschließlich die sogenannte α-Verbindung, während Toluol und auch Xylol stets Gemenge von Isomeren liefern, indem ein bestimmter Prozentsatz der Moleküle in der Ortho-, ein andrer in der Para- und ein dritter in der Metastelle zum Methyl nitriert wird. Beim Eintritt einer zweiten Nitrogruppe oder beim gleichzeitigen Eintritt zweier Nitrogruppen entsteht hauptsächlich die Metadinitroverbindung neben kleinen Mengen von Isomeren und auch eine dritte eintretende Nitrogruppe sucht vorzugsweise die Metastelle zu den bereits vorhandenen auf; doch gelten diese Regeln nur für die Benzol- und nicht auch für die Naphthalinreihe.
In bezug auf die Technik des Nitrierens ist einleitend zu bemerken, daß man der Salpetersäure immer eine größere Menge konzentrierter, in einzelnen Fällen auch rauchender Schwefelsäure[638] zusetzt, welche das bei dem Nitrierungsprozeß entstehende Wasser bindet und dadurch der andernfalls rasch erfolgenden Verdünnung der Salpetersäure bis zu einem gewissen Grad entgegenwirkt. An Stelle einer Mischung von Salpetersäure und Schwefelsäure wird unter Umständen auch gepulverter Natronsalpeter im Gemenge mit überschüssiger Schwefelsäure verwendet. Eine Sulfurierung der Kohlenwasserstoffe findet in keinem Fall statt, weil die Bildungswärme der Nitrokohlenwasserstoffe erheblich größer ist als diejenige der Sulfosäuren. Da die Kohlenwasserstoffe in der Nitriersäure nahezu unlöslich sind, so müssen beide Materialien zwecks gleichförmiger Wechselwirkung innig miteinander gemengt werden, wobei gleichzeitig für Kühlung oder auch zwecks Beschleunigung der Reaktion für Wärmezufuhr Sorge zu tragen ist. Wenn höhernitrierte Kohlenwasserstoffe hergestellt werden sollen, ist es meistens vorteilhafter, bereits ein- oder zweifach nitrierte Materialien aufs neue mit Nitriersäure zu behandeln, als die Kohlenwasserstoffe direkt mit der Gesamtmenge der erforderlichen Säure zusammenzubringen. In diesen Fällen empfiehlt es sich auch, die bereits nitrierten Materialien in konzentrierter Schwefelsäure gelöst der Einwirkung der Nitriersäure zu unterwerfen.
Die Nitrierung wird im großen stets in gußeisernen Gefäßen durchgeführt, deren Innenseite weder von der Nitriersäure noch von entfliehenden Abfallsäuren in nennenswertem Maße angegriffen wird. Etwas weniger widerstandsfähig ist Blei, von dem man nur für Rohrleitungen oder zum Auskleiden von Waschgefäßen Gebrauch macht. Eine namentlich in englischen Fabriken zum Nitrieren von Benzol und Toluol benutzte Gefäßkonstruktion ist nebst der dazu gehörenden Apparatur in Fig. 1 abgebildet, und die Bestimmung der einzelnen Teile geht aus der beigefügten Buchstabenerklärung hervor In dem Gefäß, welches bei einem Fassungsraum von 7275 l mit 2000 kg Benzol beladen wird, befindet sich eine mit zwei schraubenförmigen Mischflügeln versehene Rührwelle sowie eine aus zwei getrennten Rohrschlangen bestehende Kühlvorrichtung, die auf einer runden, von einem oben und unten offenen Zylinder getragenen Rostplatte gelagert ist.
Bei Beginn der Operation wird das Benzol in das Gefäß eingegeben, worauf man das Rührwerk (ca. 60 Umdrehungen in der Minute) in Bewegung setzt und die in einem höher stehenden Reservoir befindliche Nitriersäure in dünnem Strahl einfließen läßt. In den ersten Stunden wird die Temperatur im Nitriergefäß durch Regulieren des Kühlwasserstroms bezw. des Säurezulaufs auf 2025° gehalten und schließlich auf 6568° gesteigert. Sobald die Säure vollständig eingeflossen ist und keine Wärme mehr entwickelt wird, stellt man das Rührwerk ab. Schon nach kurzer Zeit trennt sich die Mischung in zwei Schichten, deren untere aus Abfallsäure (s.d.) besteht. Nachdem diese Schicht in das tiefer gelegene Montejus oder Druckfaß abgezogen und von hier aus durch Luftdruck weiterbefördert ist, läßt man das rohe Nitrobenzol in dasselbe Montejus einfließen und drückt es dann in das Waschgefäß, wo es durch Waschen mit verdünnter Natronlauge entsäuert wird. Zwecks Entfernung etwa der Nitrierung[639] entgangener Teile des Kohlenwasserstoffs führt man das entsäuerte Produkt in den sogenannten Abtreibeapparat Fig. 2 über und leitet dann so lange gespannten Wasserdampf ein, bis das Kondensat frei von sogenannten Legers ist, worauf man den Dampfzutritt unterbricht und erkalten läßt. Das so gereinigte Nitrobenzol ist für die meisten Zwecke direkt brauchbar und wird nur selten einer weitergehenden Reinigung durch Destillation im Wasserdampfstrom oder auch im Vakuum unterworfen.
In vielen kontinentalen Fabriken ist der in Fig. 3 abgebildete, für eine Beladung von 500 kg Benzol berechnete Nitrierapparat im Gebrauch. Das Nitriergefäß ist mit eisernem Kühl- und Heizmantel umgeben und deshalb außer für Nitrobenzol u.s.w. auch für die schon nitrierten Produkte geeignet, bei deren Herstellung Wärme zugeführt wird, in welchem Falle sich die Verwendung von Heizröhren aus Blei nicht empfiehlt. In der Regel steht, wenn Benzol u.s.w. nitriert wird, eine größere Anzahl derartiger Gefäße durch eine Rinne mit einem tiefliegenden Montejus in Verbindung, welches den gesamten Inhalt dieser Gefäße aufzunehmen vermag und ihn in ein zum Scheiden von Abfallsäure und Rohnitrobenzol dienendes Sammelgefäß hochzuheben erlaubt.
Falls auf höher nitrierte Produkte, wie z.B. Di- und Trinitrotoluol u.s.w., gearbeitet werden soll, hält man die Temperatur des das Nitriergefäß umgebenden Wassers während der ganzen Dauer der Operation durch Einleiten von Dampf auf der erforderlichen Höhe und zieht nach beendeter Nitrierung die Abfallsäure in ein Montejus ab, wogegen man den übrigen Inhalt des Nitriergefäßes in noch flüssigem Zustand unter Umrühren in kaltes Wasser einlaufen läßt, das sich in einem tiefer gelegenen, mit Bleiblech ausgekleideten Holzbottich u.s.w. befindet. Dabei erstarrt das Rohprodukt zu mäßig großen Körnern, welche sich leicht auswaschen und trocknen lassen. Eine etwa erforderliche Trennung von Isomeren wird durch Umkristallisieren aus geeigneten Lösungsmitteln bewerkstelligt.
Eigenschaften und Verhalten. Die aromatischen Kohlenwasserstoffe stellen im reinen Zustand farblose Flüssigkeiten oder feste, gut kristallisierte Körper dar, die sich auch in kochendem Wasser nur sehr schwer oder gar nicht lösen, aber in Alkohol, Aether, Eisessig und Teerdestillaten sowie in höchstkonzentrierter Salpetersäure und Schwefelsäure mehr oder weniger leicht löslich sind. Sie sind bei Lichtabschluß vollkommen lagerbeständig und verhalten sich auch gegen verdünnte Säuren, Laugen u.s.w. indifferent. Auf Metalle, wie Eisen, Blei, Kupfer u.s.w., wirken sie bei Ausschluß dritter Körper nicht ein; dagegen werden sie durch Reduktionsmittel leicht verändert und je nach den Versuchsbedingungen in Nitroso-, Hydroxylamin-, Azoxy-, Azo-, Hydrazo- oder Aminoverbindungen übergeführt, und hierauf beruht die wichtige Rolle, welche sie bei der Fabrikation vieler organischer Farbstoffe spielen. Trotz ihres verhältnismäßig hohen Siedepunktes sind einzelne aromatische Nitrokohlenwasserstoffe mit Wasserdampf flüchtig und durch einen Harken Geruch ausgezeichnet, während andre nicht oder kaum riechen.
Die Mono- und auch die meisten Dinitroverbindungen können unter gewöhnlichem Druck wenigstens eine Zeitlang, ohne eine Veränderung zu erleiden, zum Sieden erhitzt und im Vakuum[640] gefahrlos destilliert werden; die Trinitroverbindungen zersetzen lieh jedoch beim Ueberhitzen mit ziemlicher Lebhaftigkeit und zerfallen in Berührung mit detonierendem Knallquecksilber im Sinn von Explosivstoffen unter Bildung von Kohlenoxyd, Wasserdampf, Stickstoffgas und andern Substanzen.
Einzelne Nitrokohlenwasserstoffe, besonders das Mono- und das Dinitrobenzol, sind giftig, und unter Umständen wirken schon geringe Dosen derselben tödlich. In gewerbehygienischer Hinsicht von Wichtigkeit ist insbesondere die Tatsache, daß das Nitrobenzol auch durch Einatmen des beim Arbeiten in offenen Gefäßen sich entwickelnden Dunstes in den menschlichen Organismus gelangen und die schwersten Gesundheitsschädigungen hervorrufen kann. Nicht selten beobachtet man eine hochgradige Idiosynkrasie gegen Nitrobenzol; in allen Fällen macht sich aber als erstes Symptom der innerlichen Wirkung eine cyanotische Färbung der Lippen bemerkbar, worauf dem weiteren Fortschreiten der Vergiftung durch Aussetzen der Arbeit, Zufuhr von reiner Luft, Genuß von viel Milch u.s.w. Einhalt geboten werden muß.
Spezialbeschreibung. Im größten Maßstab wird das Nitrobenzol erzeugt, wobei man auf je 100 Teile Benzol eine Mischung von 120 Teilen Salpetersäure von 1,44 spez. Gew. mit 180 Teilen Schwefelsäure einwirken läßt. Es dient hauptsächlich zur Fabrikation von Anilin und Benzidin sowie als gelindes Oxydationsmittel für einzelne organische Verbindungen. Außerdem findet es wegen seines bittermandelölähnlichen Geruchs unter dem Namen Mirbanöl als billiges Surrogat für echtes oder synthetisches Bittermandelöl in der Seifensiederei Verwendung. Das Nitrobenzol stellt eine gelbliche, bei +8° erstarrende und bei 210° siedende Flüssigkeit von 1,2 spez. Gew. dar, welche im Wasserdampfstrom destilliert werden kann und sich beim Stehen an der Luft allmählich verflüchtigt.
Eine beinahe ebenso wichtige Rolle wie das Nitrobenzol spielt das (gewöhnliche) Nitrotoluol, das sich durch fraktionierte Destillation und Kristallisation in das bei 54° schmelzende, bei 230° siedende Paranitrotoluol und in das erst bei 10° erstarrende, bei 218° siedende Orthonitrotoluol trennen läßt. Beide Produkte stellen vielgebrauchte Zwischenprodukte der Farbenfabrikation dar.
Weniger wichtig ist das zur Herstellung von Xylidin dienende Nitroxylol. Dagegen wird das bei 61° schmelzende Nitronaphthalin in großen Mengen für die Fabrikation von Naphthylamin und auch als Entscheinungsmittel für Erdöle benutzt.
Dinitrobenzol und Dinitrotoluole werden außer zu Zwecken der Farbenfabrikation wie die höhernitrierten Naphthaline auch als Sprengstoffkomponenten im Gemisch mit Nitraten u.s.w. verwendet. Das für sich eminent sprengkräftige Trinitrotoluol findet wegen seiner großen Unempfindlichkeit gegen äußere Einwirkungen mehr und mehr in der Sprengtechnik bezw. in der Explosivstoffindustrie Eingang, während das dem Moschus sehr ähnlich riechende Trinitrobutyltoluol unter dem Namen künstlicher Moschus oder Muse Baur (nach seinem Erfinder) zu Parfümeriezwecken dient.
Literatur: Schultz, G., Die Chemie des Steinkohlenteers, Braunschweig; Friedländer, P., Fortschritte der Teerfarbenfabrikation, Bd. 17, Berlin; The chemical Trade Journal and chemical Engineer, London, Nr. 974, S. 59.
Häußermann.
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