[812] Harmonielehre ist die Lehre von den musikalischen Harmonien, die entweder rein theoretisch die[812] möglichen Arten der Zusammenklänge klassifiziert, ihre Konsonanz und Dissonanz erörtert und natürliche Gesetze für eine logische Verkettung derselben zu erweisen sucht (spekulative H., Harmonik) oder aber praktische Anleitungen zum mehrstimmigen Tonsatze mit Regeln und Verboten schulmäßig aufstellt (praktische H.). Beide Arten der H. sind alt. Die Elemente der spekulativen H. wurden bereits im Altertum untersucht; da dasselbe die Mehrstimmigkeit noch nicht kannte, so beschränkte sich die H. zunächst auf die Ausweisung der harmonischen Beziehungen der Töne der Skala, d. h. begründete die Melodik harmonisch (so die »Harmonik« betitelten Werke von Aristoxenos, Ptolemäus, Aristides Quintilianus u. a.). Die H. im heutigen Sinn als Lehre von den Zusammenklängen bildete sich seit Entwickelung des geregelten mehrstimmigen Tonsatzes (im 14.15. Jahrh.) ganz allmählich heraus und erlangte eine erste grundlegende Darstellung durch Zarlino (»Istituzioni harmoniche«, 1558), die den Durakkord und Mollakkord als die beiden Grundpfeiler alles harmonischen Wesens aufwies. Mehr ins Detail gingen dann allmählich die theoretischen Arbeiten von Rameau (»Traité d'harmonie«, 1722, u. a.), Tartini (»Trattato di musica«, 1754), Catel (»Traité de l'harmonie«, 1796), Fétis (»Traité de la théorie et de la pratique de l'harmonie«, 1844, u. a.), Hauptmann (»Natur der Harmonik«, Leipz. 1853, 2. Aufl. 1873); von neuern, rein theoretischen Arbeiten sind zu nennen die von A. v. Öttingen (»Harmoniesystem in dualer Entwickelung«, Dorpat 1866), O. Tiersch (»System und Methode der H.«, Leipz. 1868), O. Thürlings (»Die beiden Tongeschlechter und die neuere musikalische Theorie«, Berl. 1877), O. Hostinsky (»Die Lehre von den musikalischen Klängen«, Prag 1879), H. Riemann (»Musikalische Syntaxis«, Leipz. 1877).
Während diese theoretischen Harmonielehren die Regeln des musikalischen Satzes und die Grundgesetze der musikalischen Formgebung zu begründen suchen, begnügen sich die praktischen Harmonielehren mit der Ausstellung der durch die Praxis allmählich festgesetzten Regeln und mit Anleitungen zu ihrer Befolgung, so daß die kurzen eingestreuten theoretischen Erklärungen von Tonart, Modulation etc. von untergeordneterer Bedeutung sind. Da weitaus die Mehrzahl dieser praktischen Handbücher sich zur Bezeichnung der Harmonien der Generalbaßbezifferung (s. d.) bedienen, so heißen sie auch Generalbaßschulen und wird sogar die H. kurzweg der Generalbaß genannt. Neuere Werke dieser Art sind die von Friedrich Schneider (»Elementarbuch der Harmonie« 1820 u. ö.); E. F. Richter (»Lehrbuch der Harmonie«, 22. Aufl., Leipz. 1900), L. Köhler (»Leichtfaßliche Harmonie- und Generalbaßlehre«, 3. Aufl., Berl. 1880), S. Jadassohn (»Lehrbuch der Harmonie«, 7. Aufl., Leipz. 1903), Bußler (»Praktische H.«, 5. Aufl., Berl. 1903). Diese praktischen Harmonielehren haben mit den Ergebnissen der vorgenannten theoretischen beinahe keine Berührung, woran in erster Linie das Festhalten an der für ganz andre Zwecke erfundenen Generalbaßschrift schuld ist. Wiederholt sind deshalb Versuche gemacht worden, die für die praktischen Arbeiten erforderliche Bezeichnung der Akkorde zu reformieren, so zuletzt ohne Erfolg von Rameau, mit mehr Glück von Gottfried Weber (»Theorie der Tonsetzkunst«, 181721), der die konsonanten Harmonien, nach ihren Grundtönen bezeichnet, dissonante Töne als Zusätze bemerklich machte, eine Manier, die zur Harmoniebezeichnung von Melodien in spätere Lehrbücher (auch dasjenige Richters) überging. Der weitere konsequente Ausbau der neuen Bezifferung erfolgte durch A. v. Öttingen (s. d.), der zuerst aus den dualistischen Fundamentierungen der H. seit Zarlino die Konsequenz zog, den Mollakkord nach seinem höchsten Tone zu benennen, und durch H. Riemann (»Skizze einer neuen Methode der H.«, Leipz. 1880; »Handbuch der H.«, 3. Aufl., das. 1898, und »Vereinfachte H«., Lond. 1893). Vgl. Riemann, Geschichte der Musiktheorie (Leipz. 1898).