[924] Mittelstandsbewegung, eine von Angehörigen des Mittelstandes ausgehende Bewegung, die darauf gerichtet ist, die staatliche Gesetzgebung zu Maßnahmen zwecks seiner Erhaltung und Befestigung zu veranlassen. Freilich ist der Begriff Mittelstand kein einheitlicher und klarer; er knüpft an die Vermögens- und Einkommensverhältnisse, aber auch an die Vorstellungen der Standesehre, der sozialen Stellung. der allgemeinen und technischen Bildung, der Lebenshaltung an. Daß es an einem einheitlichen Begriff fehlt, geht schon daraus hervor, daß nicht selten von unterm und oberm Mittelstand gesprochen wird. Zu dem letztern zählen z. B. nach Schmoller die Grundbesitzer mit 550 Hektar Grundbesitz, Unternehmer mit 210 Hilfsarbeitern, die Beamten und solche Angehörige der liberalen Berufe, die 27008000 Mk. Einkommen und 6100,000 Mk. Vermögen besitzen; hierher wären im Deutschen Reich 3,75 Mill. Familien zu zählen. Zum untern Mittelstand wären die kleinen Bauern, die Handwerker, Kleinhändler, Subalternbeamten, besser bezahlten Arbeiter, Leute mit einem Einkommen von 18002700 Mk. und meist noch einigem Vermögen, im ganzen 3,3 Mill. Familien, zu rechnen. Zu der untern Klasse zählt Schmoller 5,25 Mill. Familien, hauptsächlich Lohnarbeiter, aber auch viele untere Beamte, ärmere Handwerker und Kleinbauern Über dem Mittelstand stehen 0,25 Mill. Familien, größere Grundbesitzer und Unternehmer, Rentiers, höhere Beamte, Künstler, Ärzte. Für gewöhnlich denkt man freilich unter Anknüpfung an die Verhältnisse früherer Zeit in erster Linie an die Handwerker und Kleinhändler, wenn vom Mittelstande die Rede ist, und ihnen gilt auch zunächst die M. Diese beiden Stände haben sich auch zu Interessenverbänden zusammengetan und kraft ihrer rührigen Organisation und des Umschwungs der öffentlichen Meinung beispielsweise in der Innungsnovelle zur Reichsgewerbeordnung von 1881 und in dem sogen. Handwerkergesetz einige Erfolge errungen. 1898 ist in Berlin ein »Bund der Handel- und Gewerbtreibenden« (s. d.) ins Leben gerufen worden mit dem Zweck, für eine energische Mittelstandspolitik, d. h. zur Wahrung der Interessen der bezeichneten Gruppen, einzutreten. Er fordert unter andern Umgestaltung der Gewerbesteuer im progressiven Sinne, Bekämpfung der Großbasare und Filialgeschäfte, der Konsum- und Rabattsparvereine, der Offizier- und Beamtenwarenhäuser, hauptsächlich durch hohe Sondersteuern. Auch in dieser Beziehung hat die Gesetzgebung den Wünschen der Beteiligten schon vielfach Rechnung getragen (s. Warenhaussteuer). Trotz solcher Bemühungen wird sich nicht verkennen lassen, daß der Mittelstand in diesem Sinne (Handwerker- und Kleinhändlerstand) die Tendenz zur Abnahme zeigt. Und so gerechtfertigt es ist, das Handwerk, soweit es lebens- und konkurrenzfähig ist, zu erhalten, so aussichtslos ist es, diesen alten Mittelstand da erhalten zu wollen, wo er nicht mehr existenzberechtigt ist. Nimmt man das Wort Mittelstand im weitern Sinn als Inbegriff aller Personen in mittlern Lebensverhältnissen, so wird man bei der Verschiedenheit der Interessen der einzelnen Gruppen derselben von einer einheitlichen Mittelstandspolitik nicht wohl reden können; in vieler Beziehung werden die Bedürfnisse und Ansprüche der einzelnen Gruppen weit auseinander liegen oder sich direkt durchkreuzen. So wird z. B. das Bestreben der mittlern Beamten, sich durch Beamtenwarenhäuser, ja überhaupt breiter Schichten des Mittelstandes, sich durch Konsumvereine[924] billiger und besser mit Waren zu versorgen, von den Handwerkern und Kleinhändlern heftig befehdet. Bei einer von höhern Gesichtspunkten ausgehenden Mittelstandspolitik darf aber der seit einigen Jahrzehnten neu sich bildende Mittelstand (technisch und kaufmännisch gebildete Beamte und Angestellte größerer Betriebe, Werkmeister etc. in Fabriken), der zweifellos im Zunehmen begriffen ist, nicht außer acht gelassen werden. Vgl. Schmoller, Was verstehen wir unter dem Mittelstande? (Vortrag auf dem 8. evangelischsozialen Kongreß, Götting. 1897); Wäntig, Gewerbliche Mittelstandspolitik (Leipz. 1898); Biermer, Die M. und das Warenhausproblem (Gießen 1905).