Quellenkultus

[514] Quellenkultus (Quellendienst), die weitverbreitete Verehrung des Wassers als segenspendenden Elements an seinem Ursprung. Auch da, wo einem Fluß mit langem Lauf der Kultus galt, wurde er meist an seine Quelle verlegt, wie denn der Flußgott durch das Attribut der Urne, aus der das Wasser entströmt, stets als Personifikation der Quelle dargestellt wurde. Aber auch sonst widmeten fast alle Völker in ihrer mythischen Periode gewissen Quellen, sei es ihrer heilkräftigen oder vermeintlich begeisternden Wirkung wegen, einen besondern Kultus und pflegten dabei zu erzählen, daß diese Quellen von bestimmten Gottheiten oder Heroen zu Heil und Nutzen der Menschen erzeugt worden seien. Die Erzeugung der Wahrsagequellen wurde in Griechenland vorzugsweise dem Apollon, die der warmen Heilquellen meist dem Herakles zugeschrieben, und wie die Musenquelle am Parnaß durch den Huf des Pegasos eröffnet worden[514] sein sollte und danach den Namen Hippokrene erhielt, so schrieb man auch in Deutschland die Erzeugung verschiedener Roßquellen (vgl. Roßtrappen) einem Hufschlag vom Streitroß Odins oder Karls d. Gr. zu. Besonders viele heilige Quellen im Norden wurden aber dem nordischen Apollon, Balder, zugeschrieben, wie die mancherlei Pholesbrunnen, Phulsborne, Fals- und Balderbrunnen andeuten. In den Keltenländern, am Rhein, in Frankreich und England, erscheint der Sonnengott (Apollo Grannus) in Verbindung mit einer Göttin (Sulis, Sirona oder Nerio) als Beschützer der Heilquellen, wie denn Aachen und Bath in England früher Aquae Granni, Aquae Sulis hießen. Bei den Griechen war der heilige Quell gewöhnlich schön eingefaßt und oftmals, wie z. B. die Poseidonquelle im Erechtheion auf der Akropolis, in den Tempelbau eingeschlossen oder doch mit einem Brunnenhaus oder einer Nische überwölbt. Der Kultus bestand in Bekränzungen des Beckens und in Anrufungen an den Spender des Quells und an die Nymphen oder Musen, die als Pflegerinnen des Quells gedacht waren, die ihm die Erdkräfte zuführten, die man als die Ursache der begeisternden und heilenden Wirkungen des Wassers ansah. Zu den meisten alten Tempeln gehörten solche heilige Quellen, und im Wasserspiegel der Quelle am Demetertempel zu Paträ glaubte man die Gestaltung der Zukunft zu erkennen. Die jetzt versiegten heißen Springquellen (Geifer) mehrerer Orte Kleinasiens und Siziliens galten als Heiligtümer der Paliken (s. d.), und Leute, die sich durch einen Eid zu reinigen hatten, wurden an den Springkessel geführt, um dort zu opfern und den Rächer des Meineids anzurufen. Das deutsche Altertum besaß eine besondere Brunnengöttin (Frau Holda), aus deren Brunnen nach der Volkssage die kleinen Kinder kamen, und die in der Schweiz dann in die heil. Berena umgewandelt wurde, zu deren Kinderbrunnen noch bis in die Neuzeit gewallfahrtet wurde. Auch sonst hat das Christentum, dem ja durch das Sakrament der Taufe die reinigende und heiligende Kraft, welche die Heiden den Quellen zuschrieben, annehmbar war, allem Anschein nach viele heilige Quellen der Heidenzeit übernommen; wenigstens schließen zahlreiche alte Dome und Wallfahrtskirchen solche ein. Bei der Begründung neuer Wallfahrtskirchen, wie z. B. der von Lourdes und La Salette, bestand der erste Akt stets in der Auffindung einer neuen Wunderquelle, welche die Madonna oder sonst eine Heilige erzeugt haben sollte, und neben oder über der dann die Kirche errichtet wurde. Überbleibsel des alten Q. finden sich noch an manchen Orten Englands, der Schweiz und in den Rheingegenden (Bacharach), wo die Brunnen an bestimmten Tagen bekränzt werden und Blumenopfer erhalten. Vgl. Curtius in den Abhandlungen der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (1859) und der Berliner Akademie (1876); Runge, Der Quellkultus in der Schweiz (Zür. 1859); Weinhold, Die Verehrung der Quellen in Deutschland (Berl. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 514-515.
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