[70] Heilige (lat. Sancti) sind nach der katholischen Kirchenlehre solche Verstorbene, die als Fürsprecher bei Gott und Christus von den Menschen verehrt und angerufen werden. In der alten Kirche wurde schon der Fürbitte der Märtyrer und Bekenner, solange sie noch lebten, eine von Kirchenstrafen befreiende Macht beigelegt, und es lag unter der Voraussetzung, daß die Gemeinschaft der Kirche durch das sinnliche Absterben ihrer Glieder keine Unterbrechung erleide, nahe genug, von der Fürbitte der verklärten Heiligen bei Gott um so Größeres zu erwarten. Hatten ferner schon seit Ende des 2. Jahrh. ganze Gemeinden das Andenken ihrer Blutzeugen (ihre Dies depositionis, Begräbnistage) gefeiert, an ihren Gräbern die Geschichte ihres Bekenntnisses und Leidens vorgetragen, so ging diese Gedächtnisfeier bald in Verehrung über, die von den angesehensten Kirchenlehrern empfohlen wurde. Das Volk fand in den Heiligen immer mehr eine Entschädigung für seine Untergottheiten, Genien und Heroen. Als die Gelegenheit, zum Martyrium zu gelangen, verschwand, wurden Eremiten und Mönche zu Heiligen gestempelt. Man ordnete nicht nur in den einzelnen Kirchen besondere Feste an zum Andenken gewisser Heiligen, sondern es ward auch schon im 4. Jahrh. in der orientalischen Kirche, wo die Zahl der Heiligen überhaupt früher zum Abschluß kam, später auch im Abendland das Fest Allerheiligen (s. d.) gefeiert. Seitdem wurden den Heiligen auch besondere Kirchen erbaut, in denen man ihre Reliquien aufbewahrte, und wo man, wie früher in den Göttertempeln, Abbildungen der Glieder, deren Heilung man der Fürbitte eines Heiligen zu verdanken glaubte, als Weihgeschenke aufhängte (s. Ex voto). So entstanden die besondern Schutzheiligen oder Patrone für einzelne Kirchen, Städte, Länder und gegen gewisse Übel und Gefahren. England verehrte Georg als Schutzpatron, Spanien Jakob, Ungarn Stephan. Die Juristen hatten sich Ivo, Schüler und Studierende Gregorius, die Maler Lukas, die Zimmerleute Joseph, die Schuhmacher Crispinus, die Musiker Cäcilia als Schutzpatrone auserkoren. Gegen die Pest rief man die Heiligen Rochus und Sebastian, gegen Augenleiden Ottilia, Klara und Lucia an. Selbst auf die Tiere erstreckte sich der Schutz der Heiligen; die Gänse z. B. schützte Gallus, die Schafe Wendelin. Der Zyklus der Heiligen erhielt in der Jungfrau Maria erst seinen eigentlichen Mittelpunkt; sie, das vollkommenste Ideal weiblicher Heiligkeit,[70] tritt an die Spitze der heiligen Schar. Alle in der Heiligen Schrift erwähnten Personen, die für die Wahrheit gelitten oder ihr Leben im Dienste Gottes aufgeopfert hatten, traten in die Zahl der Heiligen ein und erhielten besondere Festtage, so die Apostel, die Evangelisten etc. Endlich meinte man auch Männern, die für die Rechtgläubigkeit gestritten hatten, z. B. Athanasius von Alexandria, Leo von Rom, Ambrosius von Mailand, Augustinus von Hippo, Martin von Tours u. a., die den Märtyrern und Konfessoren (»Bekennern«, s. Confessor) bewilligte Ehre nicht versagen zu dürfen. Gleichzeitig bildete die Wundersucht nicht bloß die Heiligenlegende immer üppiger aus, sondern die fromme Phantasie erfand auch nicht wenige H., von denen die Geschichte nichts weiß. Nachdem zuerst die morgenländische Kirche im zweiten Nicäischen Konzil (787) den Heiligendienst (Hagiolatrie) kirchlich fixiert hatte, unternahm es die abendländische Scholastik, den dem Volk zum Bedürfnis gewordenen Heiligendienst mit Gründen zu stützen, die im wesentlichen bis auf den heutigen Tag-in der römischen Kirche gelten. Durch ihre Tugenden und Verdienste Freunde Gottes und Vertreter und Fürsprecher der sündigen Menschen vor dem göttlichen Thron, zugleich als Teilnehmer an Christi Weltherrschaft uns allezeit nahe, dürfen sie nicht nur um ihre Fürbitte bei Gott angerufen werden, sondern haben auch einen Anspruch auf Verehrung. Die christliche Kunst des Mittelalters hat sich vielfach mit Feststellung der Attribute der Heiligen beschäftigt und sie teils aus der Schrift, teils aus der Legende entlehnt. So ward z. B. dem Petrus der Schlüssel, dem Täufer Johannes das Lamm Gottes beigegeben. Vgl. Otte, Handbuch der kirchlichen Kunstarchäologie des Mittelalters (5. Aufl., Leipz. 188385, 2 Bde.); weitere Literatur über die Darstellung der Heiligen in der bildenden Kunst, ihre Attribute etc. s. im Artikel »Ikonologie«.
Die Anerkennung der Heiligen war in den frühern Jahrhunderten nicht geregelt, sie ging vom Volk aus; das Recht der Heiligenernennung aber sollte den Bischöfen zukommen. Seit Alexander III. (1170) nahmen die Päpste selbst das Geschäft in die Hand, jene Zierden der katholischen Christenheit prozessualisch zu ernennen (Kanonisation) und ihr Verzeichnis fortzusetzen. Der Papst untersuchte entweder selbst, unter Zurateziehung einer Versammlung von Bischöfen und später von Kardinälen, den ihm übersandten Bericht über das Leben und die als unentbehrlich zur Kanonisation geltenden Wunder des Heiligzusprechenden, oder er übertrug dies auswärtigen Klerikern. Seit der Reformation nahm man vornehmlich auf solche Personen Rücksicht, die sich durch ihren Eifer gegen die Sache des Protestantismus ausgezeichnet hatten. In diesem Sinne lieferte der Jesuitenorden eine Anzahl neuer Heiligen. Auch zwischen Heiligsprechung (canonizatio) und Seligsprechung (beatificatio) wurde unterschieden. Letztere begründet nur eine lokale Verehrung an gewissen Orten, in einzelnen Provinzen oder Diözesen oder auch nur unter einzelnen Mönchsorden, erstere dagegen eine Verehrung in der ganzen rechtgläubigen Kirche (s. Beatifikation und Advocatus diaboli).
Die Reformatoren verwarfen den ganzen Heiligenkult als im Widerspruch stehend mit der Lehre des Christentums, daß nur Gott angebetet werden solle, und daß Christus der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen sei. Den in dieser Richtung erfolgenden Angriffen wich das Tridentinum aus mit der Behauptung, daß mit dem Heiligenkult nur Gott gemeint sei, und die katholischen Kirchenlehrer suchten zwischen Anbetung (adoratio, griech. latreia), die wir nur Gott und Christo schuldig seien, und Ehrerbietung (veneratio, griech. duleia), die wir auch der Kreatur erweisen dürften, einen Unterschied zu machen, der natürlich für den Volksgebrauch wertlos ist. Die Legenden der Heiligen wurden frühzeitig gesammelt und nach dem Kalender geordnet; daraus entstanden die Kalendarien, Hagio- oder Menologien und Martyrologien (s. d.). Auch stellte man die Vitae Sanctorum in Sammlungen zusammen, von denen besonders die des Simeon Metaphrastes im Morgenland und die »Legenda aurea«, von Jacobus de Voragine (gest. 1298) veranstaltet, im Abendland bemerkenswert sind. Gedruckte Vitae Sanctorum gibt es von Aloys Lipomanus (Rom 155160, 8 Bde.), Laurentius Surius (3. Ausg., Köln 1618, 12 Bde.) u. a. Das ausführlichste Werk sind die »Acta Sanctorum«, von Joh. Bolland (Antwerp. 1643) angefangen und von den sogen. Bollandisten (s. d.) fortgesetzt. Ein vollständiges Inhaltsverzeichnis dieser Sammlung bei Potthast, »Bibliotheca medii aevi« (2. Aufl., Berl. 1896). Der 2. Band von Grotefends »Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit« (Hannov. 1892) enthält einen Kalender der Diözesen Deutschlands, der Schweiz und Skandinaviens mit alphabetischem Heiligenverzeichnis. Vgl. L. du Broc de Segange, Les saints patrons des corporations et protecteurs spécialement invoqués dans les maladies et dans les circonstances critiques de la vie (Par. 1887, 2 Bde.); Samson, Die Schutzheiligen (Paderb. 1889); Beissel, Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland (Freiburg 189092, 2 Hefte); »Hagiographischer Jahresbericht« (Mainz 1901, Kempten 1903).
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