Scribe

[230] Scribe, Eugène, franz. Theaterdichter, geb. 24. Dez. 1791 in Paris, gest. daselbst 20. Febr. 1861, widmete sich anfangs dem Studium der Rechte, betrat aber bald die Laufbahn des dramatischen Dichters. Sein erstes Stück, das er in Gemeinschaft mit G. Delavigne schrieb, »Le dervis« (1811), fiel zwar durch, und nicht besser erging es in den nächsten vier Jahren einer Anzahl andrer Stücke; allein S. ließ sich nicht entmutigen und erzielte endlich 1816 mit dem Stück »Une nuit de la garde nationale« den gewünschten Erfolg. Seitdem blieb ihm der Beifall des Publikums treu, und namentlich war die Zeit bis 1830 für ihn eine ununterbrochene Reihe von Triumphen. In dieser seiner Blütezeit brachte fast jeder Monat ein neues Stück von ihm, und die Bühnen des Vaudeville-, des Variétéstheaters, des Gymnase, später auch des Theâtre-Français genügten kaum, alles Neue, was S. mit seinen Mitarbeitern schuf, zur Darstellung zu bringen. Damals entstanden unter anderm: »Flore et Zéphyre«, »Le comte Ory«, »Le nouveau Pourceaugnac«, »Le solliciteur«, »La fête du mari« etc. Diese Fruchtbarkeit wird nur dadurch[230] erklärlich, daß S. eine förmliche Dramenfabrik anlegte, wo das Prinzip der Teilung der Arbeit vollständig durchgeführt war. Der eine erfand die Grundidee, der andre den Plan, der dritte bearbeitete den Dialog, der vierte steuerte die Couplets bei, der fünfte ersann die Schlagwörter etc. Die namhaftesten Mitarbeiter Scribes waren: G. Delavigne, Mélesville, Dupin, Brazier, Varner, Carmouche, Bayard, Saintine, Legouvé, Dumanoir, Masson, Vanderburch, Roger. Gleichwohl sind die (50) Stücke, die S. ohne Mitarbeiter schrieb, die besten, so die auf dem Théâtre-Français aufgeführten: »Le mariage d'argent«, »Une chaîne«, »Le verre d'eau« (1841), »Adrienne Lecouvreur« (1849), für die Rachel geschrieben, »Les contes de la reine de Navarre« (1851), »Batailles de dames«, »Mon étoile«, »Feu Lionel«, »Les doigts de fée« (1858), ferner »Bertrand et Raton« (1833; deutsch u. d. T.: »Minister und Seidenhändler« bekannt) und »La camaraderie« (1837) äußerst harmlose Satiren auf die Interessenwirtschaft des Julikönigtums. Seine großartigen Erfolge auf dem Théâtre-Français brachten ihm 1834 einen Sitz in der Akademie ein. Die meisten seiner Stücke sind in fast alle Sprachen Europas übersetzt; ihre Zahl, Blüetten und Libretti inbegriffen, beträgt gegen 500. Scribes Ruhm vermehrten auch die Texte, die er zu Opern von Boieldieu, Auber, Meyerbeer, Halévy, Adam, Verdi etc. dichtete, so zum »Schnee«, zur »Weißen Dame«, zur »Stummen von Portici«, zu »Fra Diavolo«, zu »Robert dem Teufel«, zur »Jüdin«, zu den »Hugenotten«, zum »Schwarzen Domino«, zum »Propheten«, zum »Nordstern«, zu den »Krondiamanten«, zur »Afrikanerin« und etwa 50 andern Opern. Auch als Romanschriftsteller hat er sich versucht. S. war ein Industrieller; Geld zu gewinnen war sein Hauptzweck. Doch war er nicht habsüchtig; man rühmt seinen Edelmut und seine Freigebigkeit; aber der Ertrag eines Stückes galt ihm als Maßstab des Erfolgs. Auch seine Personen beten den Mammon an; mit Geld räumen sie jede Schwierigkeit hinweg, erkaufen sie jede Tugend. Darum sind seine ehrlichen Leute Dummköpfe; nur den Künstler und den braven Offizier läßt er noch gelten. Gern sucht er seinen großen Staatsaktionen winzige Motive unterzulegen; unerschöpflich ist er im Erfinden von Verwickelungen, unübertrefflich in den Lösungen. Dabei tragen freilich seine Stücke das Zeichen eiligen Schaffens: sein lebendiger Stil ist oft unkorrekt, die Charaktere flüchtig gezeichnet, seine Beobachtungen oberflächlich und oft falsch, seine Szenen zuweilen äußerlich aneinandergereiht, der geschichtlichen Wahrheit wird Gewalt angetan. Dennoch fesselt der heitere Ton und gesunde Menschenverstand. Er veranstaltete selbst mehrere Ausgaben seiner »Œuvres« (1827 ff., 10 Bde.; 1833–37, 20 Bde.; 1840–42, 5 Bde.; 1853, 16 Bde., mit Illustrationen von Johannot, Gavarni u. a.). Daneben erschienen: »Théâtre« (1856–59, 10 Bde.) und »Œuvres choisies« (1845, 6 Bde.). Eine neue Ausgabe der »Œuvres complètes« umfaßt 76 Bände (1874–85). Vgl. Legouvé, Eugène S. (Par. 1874).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 230-231.
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