[316] Selbstmord (Suicidium), die mit bewußter Absicht vollbrachte gewaltsame Zerstörung des eignen Lebens. Die Beweggründe zum S. sind vielfach unsittlicher Art. Sehr viele Selbstmorde sind insofern schon lange vorbereitet, als das ganze Vorleben mit ihnen einen Abschluß findet. Insbesondere sind es geschlechtliche Unsittlichkeit und Trunksucht, die oft zu einem gewaltsamen Lebensende führen. Doch spielen neben Leidenschaften und Lastern auch Kummer und Sorge über unverschuldetes Mißgeschick eine nicht geringe Rolle. Dazu kommt der Einfluß von körperlichen und Geisteskrankheiten, die übermächtig auf den Menschen einwirken und ihn zur Selbsttötung veranlassen. Da aber eine Feststellung der Zurechnungsfähigkeit des Selbstmörders regelmäßig nicht möglich ist, so erscheint auch eine Ahndung des Selbstmordes durch unehrliches Begräbnis und eine Bestrafung des Versuchs eines solchen als unstatthaft. Die Straflosigkeit des sei es vollendeten, sei es versuchten Selbstmordes ist heute im kontinentaleuropäischen Recht allgemein anerkannt. Das deutsche Mittelalter und das ihm folgende gemeine Recht hatte[316] dem Selbstmörder schimpfliches Begräbnis angedroht, den versuchten S. willkürlich bestraft und Einziehung des Vermögens ausgesprochen, wenn der Selbstmörder durch den Tod einer mit Einziehung verbundenen Strafe entrinnen wollte. Bahnbrechend für die Straflosigkeit des Selbstmordes war das bayrische Strafgesetzbuch von 1813. Doch hält das englische Recht noch heute an der Strafbarkeit des Selbstmordversuchs durch Geld- und Gefängnisstrafe fest. Anstiftung und Beihilfe zum S. müssen als solche straflos bleiben, da der S. selbst keine strafbare Handlung darstellt; sie können aber als selbständige Vergehen (delicta sui generis) unter Strafe gestellt werden. Das ist nicht im deutschen Reichsrecht, wohl aber in außerdeutschen Gesetzen (Ungarn, Holland, Italien etc.) geschehen und vielfach auch in der deutschen Literatur empfohlen worden. In der Tat ist Unterschied zwischen der straflosen Beihilfe zum S. (A. reicht dem B. das Giftfläschchen) und der strafbaren Tötung des Verlangenden (A. flößt dem B. das Gift ein) vielfach ein sehr geringer. Vgl. Tötung. Eine scharfe statistische Gruppierung vorgekommener Fälle nach den Beweggründen zum S. ist geradezu unmöglich. Die hierüber vorliegenden Zahlen sind nur als mehr oder weniger fehlerhafte Näherungswerte zu betrachten. Aber auch eine statistische Erfassung der Gesamtzahl aller Selbstmorde ist mit Schwierigkeiten verknüpft, weil natürlicher Tod, Ermordung und Verunglückung vom S. nicht immer zu unterscheiden sind. Immerhin aber bilden die wirklich verzeichneten Fälle des akuten Selbstmordes, da gerade bei diesen die Fehlerzahl verhältnismäßig klein ist, ein hinreichendes Material für wissenschaftliche Untersuchungen. So konnte denn mit genügender Zuverlässigkeit festgestellt werden, daß im allgemeinen in Zeiten zunehmen den Wohlstandes die Neigung zum S. sich mindert, während eine Verschlechterung, insbes. eine plötzliche und unerwartete Zerrüttung der Vermögensverhältnisse, eine Steigerung derselben hervorruft. Die Statistik zeigt aber auch, daß die Zahl der Selbstmorde im 19. Jahrh. fast überall erheblich zugenommen hat, was wohl in erster Linie mit der zunehmenden Heftigkeit des Kampfes ums Dasein, mit der fieberhaften Hast und größern Ungebundenheit des modernen Lebens zusammenhängt. So schwankte die Selbstmordziffer für Preußen in den Jahren 186994 zwischen 11 und 22 auf 100,000 Einw. Dabei zeigten die Jahre 187173 (Jahre zunehmenden Wohlstandes) ein günstiges, die folgenden Jahre bis 1886 ein ungünstiges Verhältnis. Dann zeigt sich zwar eine vorübergehende Abnahme, die aber in den Jahren 189194 wieder einer Steigerung (21 Selbstmorde auf 100,000 Einw.) weichen muß. Für Frankreich weist Levasseur nach, daß die Zahl der Selbstmorde 182789 von 5 auf 21 von 100,000 Einwohnern gestiegen ist. In den Jahren 189194, bez. bei den deutschen Staaten 189195 entfielen auf 100,000 Einw. durchschnittlich für das Jahr Selbstmörder in:
Im J. 1904 entfielen auf 100,000 Einw. Selbstmorde in Preußen 20, Bayern 13,9, Sachsen 31, Württemberg 17,1, Baden 20,8, im ganzen Reich 21. Was die Häufigkeit der Selbstmorde betrifft, so ist hier auch das Alter ein ausschlaggebender Faktor, Die Untersuchungen für Preußen für den Zeitraum von 188794 haben ergeben, daß mit zunehmendem Alter der Hang zum S. wächst und regelmäßig nur einmal, nämlich in der Altersklasse von 2530 Jahren, die Zunahme der Verhältniszahl bei der Gesamtbevölkerung eine Unterbrechung erfährt. Die männliche Bevölkerung ist durchschnittlich drei- bis viermal so stark am S. beteiligt als die weibliche. Es entfielen z. B. auf 100 männliche Selbstmörder weibliche in Preußen 29, Bayern 30,4, Sachsen 32, Württemberg 22,2, Baden 24,9, im Reich 28,5. Die Art und Weise der Ausführung des Selbstmordes ist eine sehr mannigfaltige. In den meisten Fällen werden Erhängen, Ertränken, Erschießen und Vergiften angewendet, am häufigsten die erste Todesart. Vgl. Stäudlin, Geschichte der Vorstellungen und Lehren vom S. (Götting. 1824); Emminghaus, Die Behandlung des Selbstmordes in der Lebensversicherung (Leipz. 1875); A. v. Öttingen, über akuten und chronischen S. (Dorp. 1881); Masaryk, Der S. als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation (Wien 1881); Rehfisch, Der S., eine kritische Studie (Berl. 1893); E. Ferri, L'omicidio-suicidio (4. Aufl., Tur. 1895); Prinzing, Trunksucht und S. (Leipz. 1895); Dürkheim, Le suicide (Par. 1897); Artikel »Selbstmordstatistik« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 6 (2. Aufl., Jena 1901); A. Baer, Der S. im kindlichen Lebensalter (Leipz. 1901); Rost, Der S. als sozialstatistische Erscheinung (Köln 1905); Krose, Der S. im 19. Jahrhundert nach seiner Verteilung auf Staaten und Verwaltungsbezirke (Freiburg 1906); Motta, Bibliografia del suicidio (Bellinzona 1890).