Sonnenkultus

[606] Sonnenkultus (Sonnenanbetung, Heliolatrie), die Verehrung der Sonne als einer Licht und Wärme spendenden Gottheit, von deren Wohlwollen alles Leben und Gedeihen auf der Erde abhängt. Bei niedrigstehenden Völkern äußert sich der S. hauptsächlich in den Zeremonien bei Sonnenfinsternissen zur Verscheuchung des Wolfes oder Dämons, der die Sonne zu verschlingen droht, und den man ebenso wie den Mondwolf mit Lärm, Geschrei und Bogenschüssen zu verscheuchen sucht. Auf höherer Stufe fand der mit Opfern und Zeremonien verknüpfte Kultus gewöhnlich in Anlehnung an ein Sonnenepos statt, in dem das Lichtprinzip (Surya der Inder, Ormuzd der Perser, Izdubar oder Nimrod[606] der Assyrer, Osiris der Ägypter, Herakles der Phöniker und ältern Griechen, Apollon oder Dionysos der spätern Griechen, Baldr der Germanen etc.) im Kampfe mit den Mächten der Finsternis (Ahriman, Python, Typhon, Loki etc.) gedacht wurde, bald in Form einer Siegesreise durch die zwölf Himmelszeichen (die zwölf Taten des Herakles), bald eines Einzelkampfes dargestellt, bei dem der Sonnengott zeitweise (im Winter) unterliegt, in Fesseln geschlagen, fortgeführt und in Gefangenschaft gehalten wird, weil seine Strahlen alsdann keine Kraft haben, aber allmählich wieder erstarkt zurückkehrt, und über seine Gegner triumphiert. Dieser Kultus war naturgemäß in den nördlichen Ländern am lebhaftesten, und hier wurde deshalb auch der gesamte Jahreslauf der Sonne mit Festen begleitet (vgl. Sonnenfestfeuer). Den Sonnenlauf darstellende Sonnentänze und Sonnenspiele waren bei den meisten Völkern gebräuchlich, und die pythischen, olympischen und römischen Spiele weisen deutlich auf S. zurück. Einige Völker feierten auch Klagefeste zur Zeit der verwundeten Sonne oder des absterbenden Naturlebens, die Adonis-, Osiris- und Thammuzfeste der assyrischen, ägyptischen und semitischen Völker, die Dionysien und Bacchusfeste der Griechen und Römer, die sich in Frühlings- und Herbstfeier schieden. Bei Persern, Germanen, Altmexikanern, Peruanern fand eine Verschmelzung des Sonnen- und Feuerdienstes statt, und die Sonnenopfer mußten an den Hauptfesten mit neuem oder Notfeuer entzündet werden. Später wurde der Sonnengott auch wohl als Mittler- und Versöhnungsgott gefeiert, namentlich im indischen Agni, im persischen Mithra und griechisch-italischen Dionysos. Bei den Israeliten der ältern Zeit fand der S. in der Form des Baaldienstes Eingang und in der Vorstellung von Baal überwog die Idee der zeugenden Naturkraft die des bloßen Sonnengottes. Unter assyrischem Einfluß kam dann ein besonderer Kultus der Sonne, des Mondes und des ganzen Himmelsheeres hinzu. Die Könige von Juda errichteten dem Himmelsheer Altäre zur Darbringung von Räucheropfern. Rosse wurden der Sonne geweiht und Wagen für den Sonnengott. Indes sind Sonnenrosse und Sonnenwagen hauptsächlich den Indogermanen eigentümlich. Auch aus der Bronzezeit ist ein auf Falster gefundener Sonnenwagen, ein Pferd, das eine Scheibe zieht, auf sechs Rädern ruhend, gefunden worden. Über das Rad als Symbol der Sonne s. Rad, S. 546. Vielfach findet sich neben dem S. auch der Mondkultus (s. Mondkult), häufig aber tritt letzterer ohne den S. auf, namentlich bei Völkern mit Mutterrecht (Amazonenstaaten). Ein solcher Kultus findet sich noch heute unter ähnlichen Verhältnissen bei Naturvölkern Afrikas und Amerikas, und da Ähnliches in der Alten Welt stattgefunden, so galten die Sonnengottheiten zugleich als Schützer des Vaterrechts und Unterdrücker der Amazonen, namentlich Apollon, Herakles, Perseus und andre Sonnenkämpfer. Vgl. Dupuis, L'origine de tous les cultes (Par. 1795, 3 Bde.; neue Ausg. 1835–37); H. Wislicenus, Die Symbolik von Sonne und Tag in der germanischen Mythologie (Zür. 1862); Schwartz, Die poetischen Naturanschauungen, Bd. 1 (Berl. 1864); Böttger, Sonnenkult der Indogermanen (Bresl. 1891); Krause, Die Trojaburgen Nordeuropas (Glogau 1893); L. Frobenius, Das Zeitalter des Sonnengottes (Berl. 1904, Bd. 1).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 606-607.
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