Staatsgerichtshof

[809] Staatsgerichtshof, derjenige Gerichtshof eines Landes, der über die gegen einen Minister erhobene Anklage wegen Verfassungsverletzung zu entscheiden hat. In England ist die Peerskammer der S., während in den meisten deutschen Staaten das oberste Gericht des Landes die Funktionen des Staatsgerichtshofes auszuüben hat oder, wie in Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg, ein besonderer Gerichtshof in solchem Fall niedergesetzt wird, und zwar in der Weise, daß Krone und Stände gleichmäßig dessen Besetzung bewirken. (Vgl. Theodor Pistorius, Die Staatsgerichtshöfe und die Ministerverantwortlichkeit nach heutigem deutschen Staatsrecht, Tübing. 1891.) S. wird auch die zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden bestellte Behörde genannt, endlich auch das zur Aburteilung schwerer politischer Verbrechen bestellte Ausnahmegericht. Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz (§ 136) verweist Verbrechen der letztern Art, sofern sie gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet sind, vor das Reichsgericht. Das Zentrum hat wiederholt einen Antrag auf Einrichtung eines Reichsstaatsgerichtshofes eingebracht. Zu dessen Zuständigkeit sollten gehören 1) Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem Bundesstaat oder zwischen verschiedenen Bundesstaaten über öffentliche rechtliche Befugnisse; 2) Streitigkeiten über die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und seines gesetzlichen Stellvertreters; 3) Verfassungsstreitigkeiten über Thron folge, Regierungsfähigkeit und Regentschaft in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine andre Behörde zur Entscheidung dieser Streitigkeiten bestimmt ist; 4) Beschwerden wegen Verweigerung oder Genehmigung der Rechtspflege in einem Bundesstaate; 5) Entscheidungen darüber, ob eine landesherrliche Bestimmung mit dem Reichsrecht in Widerspruch steht, soweit nicht über die Gültigkeit dieser Bestimmung ein Urteil des Reichsgerichts vorliegt. Überaus schwerwiegende Gründe sprechen aber gegen die Errichtung eines Reichsstaatsgerichtshofes, jedenfalls in der hier geforderten Form. Vgl. Arndt, Zur Frage eines Reichs-Staatsgerichtshofes (in der Zeitschrift »Das Recht«, 1901 S. 7 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 809.
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