[631] Staatsgerichtshof, in manchen Staaten ein besonderer Gerichtshof, vor welchem diejenigen Verbrechen zur Verhandlung u. Bestrafung gezogen werden, welche durch Verletzung der Verfassung, u. Amtsmißbrauch begangen werden od. auf den Umsturz der ganzen Verfassung gerichtet waren. Die Idee der Errichtung eines besonderen Gerichtshofs dieser Art beruht auf der Ansicht, daß die obenerwähnten Verbrechen politischer Natur, namentlich wenn sie von den höchsten Beamten ausgegangen sind, in vielen Beziehungen eine andere Beurtheilung verlangen, als andere gewöhnliche Verbrechen. Im Einzelnen ist diese Idee indessen sehr verschieden ausgebildet worden, so daß die Grundsätze über die Organisation des S-s, den Umfang der Fälle, welche ihm überwiesen sind, u. das Verfahren dabei in den einzelnen Ländern, wo überhaupt das Institut ausgebildet worden ist, sehr von einander abweichen. In den außerdeutschen Ländern findet sich die Institution mehr als eine politische ausgebildet. Der S. ist daher dort eine politische Körperschaft u. die Anklage vor demselben kann auch wegen bloßer Mißregierung erhoben werden. Dies ist z.B. der Fall in England, wo das Oberhaus auf Anklage des Unterhauses über alle Anklagen gegen die Minister u. andere, ihr Amt selbständig bekleidende Beamte entscheidet; ebenso in Nordamerika, wo der Senat den Gerichtshof bildet u. das Haus der Repräsentanten die Anklage zu erheben hat; ferner in Norwegen, wo das Reichsgericht (Rigsrett), zusammengesetzt aus den Mitgliedern des Lagthings mit Hinzuziehung der Richter des höchsten Gerichtshofes (Höiste Rett) die Functionen des S-s versieht u. in erster u. letzter Instanz über alle durch den Odelsthing bei ihm vorgebrachten Anklagen zu entscheiden hat; endlich auch in der früheren französischen Verfassung nach der constitutionellen Charte von 1830, indem hier die Pairskammer auf die Anklage der Deputirtenkammer über alle Staatsvergehen zu urtheilen berufen war. In den deutschen Verfassungen, soweit sie das Institut überhaupt aufgenommen haben, überwiegt mehr der juristische Gesichtspunkt. Dies zeigt sich einestheils darin, daß ein wirklicher Gerichtshof, constituirt in der Hauptsache aus richterlichen Beamten, denen nur zuweilen noch andere Mitglieder beigesellt sind, u. nicht ein politischer Körper die Functionen des S-s versieht, anderntheils darin, daß nur wirkliche Verbrechen, nicht aber auch bloße politische Unfähigkeit od. Mißregierung den Gegenstand der Anklage vor dem S. bilden darf. In mehrern Staaten (Baiern, Baden, Großherzogthum [631] Hessen, Kurhessen) sind die Functionen des S-s geradezu dem höchsten Gerichtshofe des Landes übertragen u. nur einige besondere Vorschriften über die diesfallsige Behandlung der Sache gegeben, z.B. in der Weise, daß die Sache nur in. einer Plenarsitzung od. mit einer bestimmten größeren Anzahl von Richtern verhandelt werden darf; in Preußen ist nach besonderem Gesetz vom 25. April 1853 nicht das Obertribunal, sondern das Kammergericht zu Berlin zum S, bestimmt. Nach anderen Verfassungen wird der S. als eine besondere Gerichtsbehörde von dem Souverän u. den Ständen gemeinschaftlich besetzt, z.B. in Württemberg, Königreich Sachsen u. Sachsen-Weimar in der Weise) daß derselbe aus einem von dem Landesherrn aus den ersten Vorständen der höhern Gerichte ernannten Präsidenten u. 12 Räthen, von denen der Landesherr die Hälfte aus den Mitgliedern jener Gerichte, die andere Hälfte die Ständeversammlung außerhalb ihrer Mitte ernennt, besteht; in Oldenburg so, daß ein Mitglied aus den Mitgliedern des höchsten Landesgerichts durch das Loos, von den übrigen 6 Mitgliedern 3 von der Staatsregierung, 3 von dem Landtag gewählt werden u. diese erst unter sich den Präsidenten wählen; in Braunschweig so, daß 3 Mitglieder aus dem Oberappellationsgericht durch das Loos, 4 andere aber zu je 2 von der Landesregierung u. der Ständeversammlung bestimmt werden etc. Eine wesentliche Verschiedenheit findet sich dabei auch noch in der Weise, daß in einigen Ländern der S. nur in den vorkommenden einzelnen Fällen gebildet wird, z.B. in Württemberg u. Braunschweig; dagegen in andern je von einem ordentlichen Landtage zum andern ernannt u. eingerichtet wird, z.B. im Königreich Sachsen, Sachsen-Weimar u. Oldenburg. Die Personen, welche vor den S. gestellt werden können, sind in der Regel nur die verantwortlichen Minister od. Departementschefs; doch finden sich auch Ausdehnungen dieser Regel; z.B. in England u. Nordamerika, wo überhaupt alle öffentlichen Beamte vor das Forum des S-es gezogen werden können. In Preußen ist dem Kammergericht überhaupt die Untersuchung u. Entscheidung wegen aller Handlungen, welche von Unterthanen verübt werden u. das Verbrechen des Hoch- u. Landesverraths, der Thätlichkeit gegen den König od. ein anderes Mitglied des königlichen Hauses od. des Hochverraths gegen einen der Deutschen Bundesstaaten begründen, überwiesen worden. Das Verfahren vor dem S. ist zuweilen bes. normirt; wo dies nicht der Fall ist, tritt das ordentliche Rechtsverfahren ein. Meist entscheiden danach die Formen des Anklageprozesses mit Öffentlichkeit u. Mündlichkeit. Regelmäßig ist außerdem vorgeschrieben, daß die Verhandlungen u. Urtheile auch durch den Druck bekannt gemacht werden sollen. Das Urtheil hat in der Regel nur über die Frage zu entscheiden, ob der Angeklagte sich einer Verfassungsverletzung schuldig gemacht habe od. nicht. Erkennt der Gerichtshof den Angeklagten für schuldig, so hat er nach den meisten deutschen Verfassungsgesetzen zugleich die Bestrafung des Schuldigen auszusprechen. Welche Strafen aber hierbei anzuwenden seien, ist sehr verschieden bestimmt. Aufgeführt werden Verweise, Suspension, Entfernung vom Amte mit od. ohne Pension, Cassation, selbst Freiheitsstrafen; dagegen ist im Königreich Sachsenn. in Braunschweig die Befugniß darauf beschränkt, die Dienstentlassung des Dieners, resp. eine Mißbilligung des Verfahrens auszusprechen, so daß, wenn noch weitere Strafgesetze verletzt worden sind, die Bestrafung deshalb dem ordentlichen Richter vorbehalten bleibt. Die Beurtheilung der etwa aus der Verfassungsverletzung herzuleitenden Entschädigungsansprüche, z.B. der Ansprüche der Staatskasse auf den Ersatz von Staatsgeldern, ist regelmäßig den ordentlichen Gerichten überlassen. Das von dem S. einmal gefällte Erkenntniß gilt meist als unabänderlich; nur einzelne Verfassungen lassen noch ein Rechtsmittel der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand od. der Revision zu, welchenfalls entweder derselbe S. mit Wechsel der Referenten noch einmal entscheidet od. die Einholung eines auswärtigen Rechtsspruches mittelst Actenversendung (s.d.) gestattet ist. Mehre Verfassungen enthalten aber außerdem auch noch Bestimmungen, welche darauf berechnet sind, daß die Verantwortlichkeit der Minister vor dem S. nicht durch das landesherrliche Abolitions- u. Begnadigungsrecht illusorisch gemacht werden dürfe. Nach einigen (Württemberg, Baden) darf der Landesherr das Begnadigungsrecht wenigstens nicht so weit ausdehnen, daß er die Anklage ganz hindern od. daß der Verurtheilte auch nach seiner Verurtheilung in seiner Stellung belassen od. in einem anderen Staatsamte wieder angestellt werden könne; andere schließen die Begnadigung ganz aus od. verlangen dazu die Genehmigung der Volksvertretung. Vgl. Scheurlen, Der S. im Königreiche Württemberg, mit Hinweisung auf die analogen Einrichtungen in anderen Deutschen Bundesstaaten, Tüb. 1835; R. v. Mohl, Die Verantwortlichkeit der Minister, ebd. 1837.