Tastsinn

[337] Tastsinn (Gefühlssinn, Hautsinn), derjenige Sinn, der über die ganze äußere Körperoberfläche und den in ihrer nächsten Nähe gelegenen Teil der Schleimhäute verbreitet ist und uns die Empfindungen der Berührung, des Druckes und der Temperatur verschafft. Gehen die Druck- und Temperatureinflüsse über eine gewisse Grenze hinaus, so entsteht eine ganz neue Empfindungsform, nämlich der Schmerz. Wahrscheinlich besteht für jede der genannten Empfindungen ein besonderer nervöser Apparat. In der äußern Haut und den benachbarten Teilen der Schleimhäute finden sich eigentümliche Nervenendorgane (s. Haut, S. 903), die aller Wahrscheinlichkeit nach für das Zustandekommen der Gefühle von der größten Bedeutung sind. Da wir die Empfindungen, die uns Druck- und Temperatureinflüsse verursachen, an denjenigen Ort der Haut verlegen, der von dem betreffenden Reize getroffen wurde, so unterscheiden wir zwei gleichzeitige und auch im übrigen völlig gleiche Eindrücke, die zwei verschiedene Hautstellen betreffen, als räumlich gesondert. Die Organe des Tastsinnes sind also mit Raumsinn oder Ortssinn begabt. Der Raumsinn zeigt an den einzelnen Körperstellen sehr verschiedene Grade von Schärfe; man ermittelt dieselbe am besten mit dem Tasterzirkel (Ästhesiometer), einem gewöhnlichen Zirkel, dessen Spitzen aber nicht so sein sein dürfen, daß sie die Haut verletzen. Die Spitzen des Zirkels setzt man auf irgendeine Hautstelle und bestimmt (bei geschlossenen Augen des zu Prüfenden) den kleinsten Abstand der Spitzen, bei dem noch eine zweifache Berührung wahrgenommen wird, die Raumschwelle. An der Zungenspitze beträgt sie 1 mm, an der Beugefläche des letzten Fingergliedes 2, an dem roten Teile der Lippen sowie an der Beugefläche des zweiten Fingergliedes 4, an der Nasenspitze 7 mm, in der Mitte des Oberarms und Oberschenkels sowie an dem Rücken 65 mm. Fortgesetzte Übung erhöht die Feinheit des Raumsinnes und zwar an sonst minder bevorzugten Stellen verhältnismäßig mehr als an den seiner tastenden Hautpartien. Besonders entwickelt soll der Raumsinn des Blinden sein; doch wird dieser weitverbreiteten Angabe widersprochen. Man erklärt diese Erscheinungen durch das Vorhandensein sogen. Empfindungskreise auf der Haut. Jede in der Haut sich verzweigende sensible Nervenfaser versorgt hier ein bestimmtes Gebiet, einen Tast- oder Empfindungskreis. Fallen zwei Tastreize (Aufsetzen der beiden Zirkelspitzen) in ein und denselben Tastkreis, so werden sie nicht als verschieden wahrgenommen. Die Doppelempfindung kann erst dann eintreten, wenn gleichzeitig Verbreitungsbezirke verschiedener Nervenfasern berührt werden. Der Raumsinn ist von großer Wichtigkeit für die Wahrnehmung der Form eines berührten Gegenstandes (Stereognostik), ebenso für die Beurteilung seiner Oberflächenbeschaffenheit (Rauhigkeit, Glätte).

Der Druck, den äußere Objekte auf unsre Haut ausüben, wird entweder unmittelbar geschätzt mittels spezifischer, durch den Drucksinn vermittelter Tastempfindungen, oder mittelbar dadurch, daß eine von uns gegen den drückenden Körper ausgeführte willkürliche Bewegung uns zum Bewußtsein kommt. Im letztern Fall erschließen wir die Größe des Widerstandes oder Gewichts aus den die Bewegung begleitenden Muskelgefühlen. Man ist imstande, noch zwei gehobene Gewichte voneinander zu unterscheiden, deren Schwere sich wie 29:30 verhält; unter Zuhilfenahme des Muskelgefühls werden sogar noch Gewichte unterschieden, die sich wie 39:40 verhalten. Dabei ist aber vorausgesetzt, daß die Gewichte weder zu schwer noch zu leicht sind. Zunahme eines auf der Hand lastenden Druckes wird leichter wahrgenommen als Abnahme desselben. – Der Drucksinn zeigt in den verschiedenen Bezirken der Haut geringere Unterschiede seiner Feinheit als der Raumsinn, und diese sind wohl zumeist durch die verschiedene Dicke der verhornten Oberhaut bedingt. An denjenigen Stellen, die mit seinen Flaumhärchen versehen sind, erleichtern diese die Druckwahrnehmung. Der geringste Druck, der eben noch empfunden wird, ist der durch ein Gewicht von etwa 0,5 mg ausgeübte (Druckschwelle). Bloße Berührung[337] ohne jeden Druck scheint nicht wahrgenommen zu werden.

Die Temperaturempfindungen der Haut scheiden sich in Wärme- und Kälteempfindungen (Kältesinn und Wärmesinn). Nicht jeder Hautstelle kommen beide in gleichem Maß oder sogar nur gleichzeitig zu, vielmehr unterscheidet man, wenn man wenig ausgedehnte Temperaturreize wirken läßt, Punkte, die nur Kälteempfindung, und solche, die nur Wärmeempfindung geben: Kälte- und Wärmepunkte. Kältepunkte vermitteln eine Kälteempfindung nicht nur, wenn sie mit kalten Gegenständen berührt werden, sondern auch, wenn sie von Wärmereizen betroffen werden. Diese paradoxe Kälteempfindung ist eine Folge der spezifischen Energie der Sinnesnerven, die, wie auch der Reiz beschaffen sein mag, der sie trifft, immer mit ihrer eigenartigen Empfindung darauf antworten.

Wirkliche Temperaturempfindungen haben wir nur innerhalb ziemlich enger Grenzen. Wasser von mehr als 55° und Schnee von wenig mehr als -1° verursachen schon Schmerz. Wärmeempfindung entsteht dadurch, daß der Haut Wärme durch Strahlung oder Leitung zugeführt, oder daß die Wärmeabgabe der Haut vermindert wird. Die Wärmezufuhr kann von außen eintreten oder dadurch, daß durch die Haut mehr Blut hindurchströmt. Verminderung der Wärmeabgabe entsteht durch Bedecken der Haut mit schlechten Wärmeleitern (Handschuhe). Ebenso entsteht Kälteempfindung durch Vermehrung der Wärmeabgabe (an kalte, die Haut berührende Körper oder durch Strahlung) oder durch Verminderung des der Haut zugeführten warmen Blutstromes (Kältegefühl bei gleichzeitiger Blässe der Haut). Wir vermögen zwischen 17 und 38° noch Temperaturunterschiede von 1/5-1/6°, jedoch nur bei sehr großer Aufmerksamkeit, zu erkennen. Am bevorzugtesten sind in dieser Beziehung die Zungenspitze, die Gesichtshaut, die Finger. Die Fähigkeit für Temperaturwahrnehmungen wird durch verschiedene Umstände vorübergehend beeinträchtigt, soz. B. schon durch Eintauchen der Hand in Wasser von einigen 50 Grad, durch Schmerzen verschiedener Art u. dgl. Ist die Hand durch Eintauchen in niedrig temperiertes Wasser (z. B. von 10°) abgekühlt worden, so empfindet man beim Einbringen derselben in Wasser von z. B. 20° Wärme; war die Hand eine Zeitlang in warmes Wasser (von 30–35°) getaucht worden, so erscheint ihr Wasser von 20° kalt. Die jeweilige Temperatur der Haut veranlaßt also eine verschiedene Beurteilung der objektiven Temperatur. Schnelle Temperaturveränderungen der Haut bedingen lebhaftere Empfindungen. Kalte Körper, welche die Wärme gut leiten, wie Metalle, halten wir deshalb (weil sie der Haut die Wärme schnell entziehen) für kälter als andre gleich kalt, die schlechte Wärmeleiter sind, wie z. B. Holz, Stroh etc. Erwärmung oder Abkühlung kleinerer Hautstrecken verursacht schwächere Temperatureindrücke als die größerer. Taucht man z. B. einen Finger der linken Hand in Wasser von 32°, die ganze rechte Hand dagegen in solches von 28,5°, so erscheint uns letzteres gleichwohl wärmer als das erstere, während der Unterschied sofort den wirklichen Verhältnissen entsprechend erscheint, wenn man beide Hände ganz eintaucht. Vgl. E. H. Weber, Über T. und Gemeingefühl, in Rudolf Wagners »Handwörterbuch der Physiologie«; Thunberg, Physiologie der Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindungen (in Nagels »Handbuch der Physiologie des Menschen«, Braunschw. 1905); Goldscheider, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Physiologie der Hautsinnesnerven (Leipz. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 337-338.
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