Volkstrachten

[242] Volkstrachten (hierzu die Tafeln »Volkstrachten I u. II«), im Gegensatz zu der dem Wechsel der Mode folgenden Tracht der höhern Stände, insbes. der Stadtbewohner, die Tracht der Landleute in den meisten europäischen Ländern. Die Scheidung in der Tracht der bürgerlichen und bäurischen Volksklassen ist zuerst im Laufe des 16. Jahrh. aufgetreten, als die Gegensätze zwischen Stadt und Land, in Deutschland besonders infolge der Bauernkriege, schärfer geworden waren, hat sich aber zumeist erst im 17. und 18. Jahrh. vollzogen. Während die Städter, namentlich die Patrizier und reichen Handelsherren, dem Beispiel der Fürstenhöfe und der Edelleute folgten und ihre Tracht mehr und mehr der Mode anpaßten, hielten die Landbewohner an der alten Tracht fest, die je nach der Beschaffenheit des Klimas und des Bodens und nach der Ausbildung der Hausindustrie, die den Bedarf an Kleidung und Schmuck fast ausschließlich deckte, ihr charakteristisches Gepräge erhielt. Oft war auch die spezielle Berufstätigkeit von Einfluß auf die Gestaltung der V. In einigen Gegenden Deutschlands, z. B. im Hauensteiner Ländchen (Schwarzwald), haben sich in der Bauerntracht noch jetzt Reste der Tracht des Zeitalters der Reformation erhalten, und auch sonst spiegeln die V. die modische Tracht früherer Zeitperioden, gleichsam in Erstarrung, wider. Je einsamer, je mehr von der städtischen Kultur abgeschlossen eine Landschaft war, desto zäher hielten die Bewohner an der Volkstracht und ihrer Grundbedingung, der Hausindustrie, fest. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. ist eine Wendung eingetreten, die voraussichtlich in kurzer Zeit den völligen Untergang der V., besonders in Deutschland und Italien, herbeiführen wird. Die gewaltige Steigerung des modernen Verkehrs durch Eisenbahnen, das mit ihm verbundene Eindringen der modernen, wohlfeilen Fabrikwaren in die entferntesten Erdenwinkel und die dadurch erzeugte Unzufriedenheit der Landbewohner mit ihren bisherigen Lebensbedingungen haben diesen Umschwung herbeigeführt. – V., die über die Landbewohner hinaus noch in die niedern Volksklassen der Städte hinübergreifen, trifft man nur noch in einzelnen Gegenden des arabischen Orients, in Persien, China, Indien, Japan etc. an, obwohl auch hier die europäische Kultur, namentlich in den mit europäischer Bildung genährten Volksklassen, immer mehr um sich greift. – Um die Überreste der alten V. wenigstens für die Wissenschaft der Kulturgeschichte zu retten, sind in neuerer Zeit Sammlungen echter V. gegründet worden, die zum Teil den Anstoß zur Begründung von modernen Trachtenmuseen (z. B. des jetzt dem Museum für Völkerkunde angegliederten Museums für deutsche V. in Berlin) gegeben haben. An andern Orten (z. B. in München, Breslau, Konstanz, Überlingen und in Bozen in Tirol) sind Sammlungen alter V. mit kulturgeschichtlichen Museen verbunden worden. Für die Kenntnis der Trachten der Naturvölker, die man jedoch nicht zu den V. im eigentlichen Sinne zählt, sorgen die ethnographischen Sammlungen. Eine Übersicht über die am meisten charakteristischen V. Europas und des Orients gewähren die beigegebenen Tafeln, deren Figuren aus Veröffentlichungen des 19. Jahrh. geschöpft sind, die also ungefähr den jetzigen Bestand an V. widerspiegeln. Vgl. die bei Artikel »Kostüm« angegebene Literatur; dazu Hottenroth, Deutsche V. vom 16. Jahrh. bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Frankf. a. M. 1898 bis 1902, 3 Abt.); Hansjacob, Unsere V. Ein Wort zu chrer Erhaltung (Freiburg 1896); Spieß, Trachtenkunde (in den »Deutschen Geschichtsblättern«, Bd. 8, Heft 6–7, Gotha 1907; mit Verzeichnis der Trachtenwerke).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 242.
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