Zinsen

[949] Zinsen (lat. Usurae, Foenus, s. d.), Vergütung für die Benutzung eines einem andern zu gehörigen Geldkapitals (Interessen). Das Zinsennehmen war in frühern Zeiten, so insbes. nach dem kanonischen Recht im Mittelalter, als Wucher (s. d.) angesehen. Es erklärt sich dies daraus, daß damals das Entleihen von Geldkapital zumeist nicht zum Zwecke produktiver Verwendung, sondern zu Verbrauchszwecken geschah. Heute dagegen, wo der produktive Charakter des Geldkapitals nicht bestritten werden kann, erscheint der Zins als eine billige und gerechtfertigte Entschädigung an den Darleiher, der dadurch, daß er das Kapital ausleiht, auf die Möglichkeit verzichtet, es selbst zu seinem Vorteil nutzbringend zu verwenden. Im einzelnen kann die Verbindlichkeit, Z. zu zahlen, beruhen: auf einer Willenserklärung seitens des Schuldners, die entweder vertragsmäßig vereinbarte Z. (Konventionalzinsen aus Darlehen oder kreditierten Forderungen) zur Folge hat, oder sich einseitig äußert durch Versprechung (Pollizitation) oder durch Annahme einer Erbschaft kraft eines Testaments, das dem Erben die Verzinsung eines Vermächtnisses auslegt (testamentarische Z.); daneben stehen die auf Gesetz beruhenden Z. Hauptfälle dieser sind die Z. von Verwendungen (Bürgerliches Gesetzbuch, § 256), die Verzugszinsen (§ 288, 289 u. 290), die Prozeßzinsen seit der Rechtshängigkeit (§ 291); weitere Fälle in § 347, 668, 675, 681, 698, 1834, 1915, 452, 641, 819, 820, 489 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Nach dem deutschen Handelsgesetzbuch können Kaufleute untereinander bei beiderseitigen Handelsgeschäften auch ohne Verabredung oder Mahnung von jeder Forderung seit dem Tag, an dem sie fällig war, Z. beanspruchen. Judikatszinsen nennt man die durch richterliches Urteil rechtskräftig zuerkannten Z.

Das Verhältnis der Z. zu der Kapitalsumme, von der diese entrichtet werden (Zins der Kapitaleinheit), nennt man Zinsfuß. Er wird gewöhnlich für das Kapital 100 (daher Prozent oder Perzent = für 100) und je für die Dauer eines Jahres ausgedrückt. Die Höhe des Zinsfußes wird bedingt durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Kapitalien. Steigt ersteres und nimmt letztere ab, so sinkt der Zinsfuß und umgekehrt. Die unterste Grenze, unter die er nicht herabgehen kann, wird bestimmt durch das Mindestmaß des Betrages, der den Kapitalbesitzern, die ihr Kapital nicht selbst fruchtbringend zu verwenden imstande oder gewillt sind, noch eben als genügender Anreiz zur Ansammlung von Kapitalien erscheint; die oberste, über die hinaus er nicht steigen kann, durch den Nutzen, den sich der Entleiher aus geliehenem Kapital überhaupt versprechen darf. In Fällen der Notlage kann diese oberste Grenze weit über der des allgemein üblichen Zinssatzes stehen, wie denn auch bei Pfandleih- und Rückkaufsgeschäften leicht sehr hohe Z. gezahlt werden. Ein mittlerer, überall maßgebender Zinssatz kann sich überhaupt nur unter der Voraussetzung bilden, daß die Konkurrenz auf dem Kapitalmarkt eine voll wirksame ist. Aus diesem Grund werden durch Organisation des Kredits. die für regelmäßige und rasche Ausgleichung von Angebot und Nachfrage sorgt, sowie durch Ausdehnung und Verbesserung des gesamten Verkehrswesens die Extreme einander genähert, innerhalb deren der Zins zeitlich und örtlich zu schwanken pflegt. Abweichungen von dem allgemeinen Zinssatz können in gegebenen Fällen durch alle diejenigen Ursachen hervorgerufen werden, die überhaupt bei der Preisbildung wirksam sein können, wie Unkenntnis, Leichtsinn, Notlage, gewissenlose Ausbeutung u. dgl. Insbesondere werden etwaige Verschiedenheiten auch durch die Sicherheit bedingt, die dem Kapitalbesitzer geboten wird. Ist Gefahr vorhanden, daß letzterer Verluste erleide, so wird er sich eine der Höhe dieser Gefahr entsprechende Risikoprämie (oft auch Assekuranzprämie genannt) ausbedingen, die teils von allgemeinen Umständen, wie Rechtssicherheit, Verkehrsverhältnisse, teils von nur in dem besondern Fall auftretenden Bedingungen, wie Sicherheit der Person und der Unternehmung, Art der besondern rechtlichen Sicherstellung (Real- gegenüber Personalkredit), abhängig ist. So umfaßt dasjenige, was man gewöhnlich schlechthin Zins nennt, jene Risikoprämie neben der eigentlichen Vergütung für überlassene Kapitalnutzung (Zins im engern Sinn). Dementsprechend kann denn auch der berechnete Zinsfuß bei Darlehen auf länger dauernde Anlagen (Anlagezinsfuß, insbes. hypothekarischer Zinsfuß) ein andrer sein wie derjenige für Darlehen auf kurze Fristen, wie der Lombardzinsfuß (s. Lombard), der kaufmännische oder Bankzinsfuß und insbes. der Wechselzinsfuß (Diskontsatz, s. Diskont). Die Verlustchancen werden häufig unterschätzt, während die Neigung zur Überschätzung eintritt, sobald einige Verluste wirklich erfolgt sind und eine allgemeine Panik hervorrufen. Insbesondere wird bei dem Konsumtivkredit, für den sehr häufig eine reale Sicherheit (Pfand) nicht geboten werden kann, die Überschätzung auf seiten des Kapitalisten leicht einem zu großen Vertrauen des Kapitalbedürftigen auf spätere Zahlungsfähigkeit begegnen, was oft eine schrankenlose Steigerung des Zinsfußes veranlaßt. Aus den angegebenen Gründen wird der Zinsfuß bei rohen Völkern höher sein als bei solchen, die auf höherer Stufe der Wirtschaft und Kultur stehen. Ein Sinken des Zinsfußes ist übrigens bei zunehmender [949] Kultur schon um deswillen zu erwarten, weil das Kapital sich rascher vermehrt als die Anlagegelegenheiten. Besonders in der jüngsten Zeit ist der Zinsfuß bedeutend gesunken, was eine Reihe von Zinsreduktionen bei Staatsschulden (s. d.), Erschwerung des Rentnerlebens u. dgl. nach sich zieht.

Was das geltende Recht anlangt, so unterliegt die Höhe des Zinses der freien Verfügung, soweit nicht Vorschriften über den Wucher (s. d.) entgegenstehen. Über Z. enthalten § 246–248 des Bürgerlichen Gesetzbuches und § 352 und 353 des Handelsgesetzbuches zusammen die folgenden allgemeinen Bestimmungen: 1) Z. werden regelmäßig bei beiderseitigen Handelsgeschäften (s. d.) zu 5 und sonst zu 4 vom Hundert für das Jahr geschuldet. 2) Kaufleute sind untereinander berechtigt, für ihre Forderungen aus beiderseitigen Handelsgeschäften vom Tage der Fälligkeit an Z. zu fordern. 3) Wenn anderweit als bei Schuldverschreibungen auf den Inhaber ein höherer Zinssatz als 6 vom Hundert vereinbart ist, so kann der Schuldner nach 6 Monaten mit sechsmonatiger Kündigungsfrist kündigen. – Das preußische und das sächsische Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch und das Bayerische Übergangsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch haben in ihren Art. 10, § 3, und Art. 3 auch diejenigen höhern Zinsverbindlichkeiten, die auf unberührt gebliebenen Landesgesetzen beruhen, auf 4 vom Hundert herabgesetzt, und zwar auch bei einem schon vor 1900 begonnenen Zinsenlauf. Vgl. Kahn, Geschichte des Zinsfußes in Deutschland seit 1815 (Stuttg. 1884); Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins (Innsbr. 1884–89, 2 Bde.) und dessen Artikel Zins im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, 2. Aufl., Bd. 6 (Jena 1894); Neurath, Das Sinken des Zinsfußes (Wien 1893); Billeter, Geschichte des Zinsfußes im griechisch-römischen Altertum (Leipz. 1898); Wicksell, Geldzins und Güterpreise (Jena 1898); Homburger, Die Entwickelung des Zinsfußes in Deutschland von 1870–1903 (Frankf. 1905). S. auch Zinsrechnung und Anatozismus.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 949-950.
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