Wucher

[761] Wucher, im allgemeinen die Ausbeutung der Notlage andrer bei Kauf und Darlehen. Man spricht demgemäß auch vom Kornwucher (s. d.). Im engern Sinne versteht man unter W. den Zinswucher, der sich auf das Nehmen von Zinsen bezieht, und zwar bezeichnete man ursprünglich als W. das Nehmen von Zinsen überhaupt, später nur die Überschreitung des gesetzlich zulässigen Zinssatzes. Bei unentwickeltem Verkehr ist der Kredit vorwiegend Konsumtivkredit und darum auch die Verwerfung des Zinsnehmens erklärlich. Das Darlehen erschien mehr nur als ein Werk der Barmherzigkeit und der Liebe, weswegen auch nach mosaischem Rechte das unentgeltliche Darlehen an Volksgenossen dem Vermögenden zur Pflicht gemacht wurde. Bei den Römern unterlag der Zinsfuß verschiedenen Schwankungen, der Anatozismus (s. d.) war jedoch verboten und bestimmt, daß der Gläubiger kein Recht haben solle, weitere Zinsen zu fordern, sobald die rückständigen Zinsen bis zur Höhe des Kapitals (alterum tantum) angewachsen seien. Die religiösen Anschauungen des mosaischen Rechtes machten sich auch in der christlichen Kirche geltend. Ursprünglich nur Klerikern versagt, wurde von Papst Leo 443 das Zinsnehmen auch für Laien als verdammenswert erklärt, und auf dem Konzil zu Vienne 1311 wurde der W. mit dem Ausschluß vom Abendmahl, Aberkennnung des Rechtes, ein Testament zu machen, und Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses bedroht. Das kanonische Recht fand bald in der weltlichen Gesetzgebung Unterstützung. Die Wucherverbote wurden jedoch vielfach umgangen. Eine Handhabe hierfür boten insbes. der Renten- und Giltenkauf sowie der Wechsel. Mit Entwickelung von Handel und Verkehr brachen sich andre Anschauungen Bahn. Man mußte, zumal Kaufleuten gegenüber, die Zinsberechnung unter verschiedenen Titeln und Formen (Ersatz für Verzugsschaden, Vergütung für abgelaufene Gefahr etc.) zulassen. So wandelte sich allmählich der Begriff des Wuchers in denjenigen des Justinianeischen [761] Rechtes wieder um. Es wurden Zinstaxen eingeführt (meist 5 Proz., für den Handel 6 Proz. als Maximum), deren Überschreitung bei Strafe verboten wurde. Später wurde auch in mehreren Ländern die Überschreitung zwar nicht verboten, ihr jedoch die gesetzliche Anerkennung versagt. Die Wuchergesetze (Wucherverbote) wurden seit Ende des 18. Jahrh. auf Grund der sich entwickelnden praktischen Verkehrsbedürfnisse sowie der nationalökonomischen und rechtsphilosophischen Anschauungen lebhaft bekämpft. Man machte geltend, daß es unmöglich sei, ein überall passendes Zinsmaximum festzusetzen, daß die Gesetze leicht zu umgehen seien, von der Staatsgewalt selbst bei Anlehen nicht beobachtet würden, daß das Gesetz, das den Gläubiger bedrohe, nur zur Erhöhung des Zinses und zu härtern Bedingungen für den Schuldner führe etc. Infolgedessen wurde Mitte des 19. Jahrh. fast in allen Kulturländern, zum Teil mit gewissen Ausnahmen, z. B. bei Pfandleihgeschäften und Darlehen auf Hypotheken, die Zinsfreiheit (Wucherfreiheit) eingeführt.

In mehreren deutschen Ländern waren die Wucherverbote schon vor 1860, in einigen in den 1860er Jahren ganz oder zum Teil beseitigt worden. Ebenso wurde durch Gesetz vom 14. Nov. 1867 (jetzt Reichsgesetz) die Bestimmung der Zinshöhe der freien Vereinbarung überlassen. Doch kann der Schuldner, der nicht etwa Kaufmann ist, einen Vertrag, der mehr als 6 Proz. ausbedingt, unter allen Umständen sechsmonatlich kündigen. Diese Kündigungsbefugnis kann durch Privatabkommen nicht ausgeschlossen werden. Die landesgesetzlichen Bestimmungen über Zinseszins und über die gewerblichen Pfandleihanstalten wurden durch das Reichsgesetz nicht weiter berührt. Die vollständige Freigabe der vertragsmäßigen Zinsen hatte, besonders in einzelnen Gegenden und Berufsklassen, verschiedene Mißstände hervorgerufen. Diese Umstände führten in Österreich zu einer Änderung der Gesetzgebung (Gesetze vom 19. Juli 1877 und 28. Mai 1881, betreffend Abhilfe wider unredliche Vorgänge bei Kreditgeschäften für Galizien, Lodomerien, Krakau und die Bukowina). Auch für Deutschland wurde unter dem 24. Mai 1880 ein Gesetz (sogen. Wuchergesetz) erlassen, dessen Artikel 3 durch § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches ersetzt wurde. Das Gesetz, das als § 302 a bis d in das deutsche Strafgesetzbuch eingestellt wurde, bestimmt: »Wer unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines andern für ein Darlehen oder im Falle der Stundung einer Geldforderung sich oder einem Dritten Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, die den üblichen Zinsfuß dergestalt überschreiten, daß nach den Umständen des Falles die Vermögensvorteile in auffälligem Mißverhältnis zu der Leistung stehen, wird wegen Wuchers mit Gefängnis bis zu 6 Monaten und zugleich mit Geldstrafe bis zu 3000 Mk. bestraft.« Ebenso verboten ist die Ausbedingung wucherlicher Vermögensvorteile auf Umwegen, d. h. verschleiert oder wechselmäßig oder unter Verpfändung der Ehre, auf Ehrenwort, eidlich oder unter ähnlichen Versicherungen oder Beteuerungen. Mit Strafe bedroht sind ferner wissentlicher Erwerb, Weiterveräußerung und Geltendmachung wucherlicher Forderung von seiten eines Dritten. Höher bestraft (Gefängnis nicht unter 3 Monaten und zugleich Geldstrafe von 150–15,000 Mk. sowie obligatorischer Ehrverlust) wird gewerbs- und gewohnheitsmäßiger W. Anschließend hieran wurden einzelne Bestimmungen über das Pfandleih- und Rückkaufsgeschäft erlassen. Die sich steigernden Klagen über den von dem Gesetze nicht getroffenen Handelswucher führten zu dem Ergänzungsgesetz vom 19. Juni 1893. Die wichtigsten Neuerungen dieses Gesetzes sind: 1) der Begriff des Geld- oder Kreditwuchers wurde wesentlich erweitert durch Einbeziehung aller zweiseitigen Rechtsgeschäfte, die denselben wirtschaftlichen Zwecken dienen sollen wie das Darlehen. Man hat demgemäß unter diesen Kreditgeschäften jede Befriedigung eines Kreditbedürfnisses zu verstehen, die den Empfänger zu späterer Rückzahlung verpflichtet, so daß Abkauf von Sachen oder Forderungen unter ihrem Werte nicht hierher gehört. 2) Neu aufgenommen wurde der Sach-, Geschäfts- oder Handelswucher (§ 302 e). Er liegt vor, wenn die Ausbeutung sich auf andre Rechtsgeschäfte als Kreditgeschäfte (Kauf und Verkauf von beweglichen oder unbeweglichen Sachen, Dienstmiete etc.) bezieht; ist aber nur strafbar, wenn gewerbs- oder gewohnheitsmäßig betrieben (dieselbe Strafe wie die des gewerbsmäßigen Geldwuchers). 3) Wer aus dem Betriebe von Geld- oder Kreditgeschäften ein Gewerbe macht, hat dem Schuldner jährlich Rechnung zu legen. Unterlassung wird mit Geldstrafe bis zu 500 Mk. oder mit Hast bestraft. Der obenerwähnte § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches gibt den zivilrechtlichen Begriff W., der dem strafrechtlichen fast völlig entspricht und bestimmt, daß derartige Wuchergeschäfte nichtig sind. Außerdem ist das, was auf Grund eines Wuchergeschäftes der Wucherer empfangen hat, als ungerechtfertigte Bereicherung nach § 817 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches herauszugeben. Vgl. M. Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland bis zur Begründung der deutschen Zinsengesetze 1654 (Halle 1865); Endemann, Die Bedeutung der Wucherlehre (Berl. 1866); Chorinsky, Der W. in Österreich (Wien 1877); v. Stein, Der W. und sein Recht (das. 1880); »Der W. auf dem Lande« (in Bd. 35 und 38 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Leipz. 1887 u. 1889); Blodig, Der W. und seine Gesetzgebung (Wien 1892); Isopescul-Grecul, Das Wucherstrafrecht (Leipz. 1906, Bd. 1); L. u. J. P. Geller, Das österreichische Wucherstrafrecht (Wien 1908). Ausgaben des Reichswuchergesetzes vom 19. Juni 1893 lieferten Friedmann, Fuld, Henle, Kahn, Koffka, Meisner u. a. Vgl. auch Pinner, W. und Wechsel. Ein Leitfaden zum Schutze gegen Bewucherung, insbes. für Offiziere (Berl. 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 761-762.
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