Brüderlichkeit

[363] Brüderlichkeit (fr. Fraternité), eine der drei Forderungen, welche die französische Revolution von 1848 an den neuzubegründenden Staat richtete. Freiheit u. Gleichheit waren schon in den früheren Revolutionen von 1791 u. 1830 als Grundsätze der neuen Staatsordnung angenommen worden. Die letzte Bewegung ging weiter, indem sie nicht blos das rechtliche Verhältniß des Einzelnen dem Staate u. den übrigen Staatsangehörigen gegenüber als persönliche Freiheit u. Gleichstellung vor dem Gesetz forderte, sondern auch ein sittliches Princip, eine menschlich-christliche Pflicht, deren Ausübung das formale Recht nicht erzwingen kann, als Grundzug der neuen gesellschaftlichen Ordnung angenommen wissen wollte. Sie erstrebte damit etwas Unmögliches. Wenn die Sittlichkeit auch ursprünglich der Grund aller Gesetzgebung ist, wenn auch der Staat zu ihrem Schutz u. ihrer Aufrechterhaltung unter Umständen in private Verhältnisse eingreift, um die Erfüllung menschlicher Pflichten, wie Erziehung der Kinder, die Sorge für die nächsten Anverwandten u. dergleichen, zu erzwingen, so hat er doch keine Mittel, um nach dem sittlichen Motive der Nächstenliebe jedem Einzelnen Beistand u. Unterstützung zu gewähren, wo denselben Unglück u. Selbstverschulden in hülfsbedürftige Lage versetzt haben. Der Versuch, dem Staate die Sorge für Arbeitslose u. Arbeitsunfähige aufzubürden, mißlang daher der revolutionären Bewegung von 1848 u. zeigte sich praktisch unausführbar. Über die Familie u. den Gesellschaftskreis hinaus, in welchem der Einzelne lebt, erstreckt sich das Mitgefühl u. die Theilnahme an dem Schicksal Anderer nur in sehr beschränkter Weise. Gemeinden, Corporationen, Gesellschaften, welche ein ethisches Princip od. auch das materielle Interesse zusammenhält, vermögen leichter u. wirksamer als der Staat die Pflichten der Menschlichkeit zu üben, u. wo Menschen in engeren Verbänden zu gemeinsamem Streben näher zusammentreten u. die Ehre des Einzelnen an die Ehre des Ganzen, dem er angehört, sich knüpft, erweist sich die private Fürsorge ebenso kräftig wie heilbringend. Ein gelockertes Familienleben, ein haltloses Gemeinwesen, einem Isolirung jedes Einzelnen auf seine persönlichen Interessen nöthigt freilich den Staat, soweit er es vermag, Menschenpflichten zu übernehmen, die er aber nur kärglich zu erfüllen im Stande ist.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 3. Altenburg 1857, S. 363.
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