Verhältniß

[473] Verhältniß, 1) der allgemeinste Ausdruck dafür, daß gleichartige Begriffe, Dinge od. Ereignisse nicht einzeln betrachtet werden, sondern insofern sie in Beziehung zu einem anderen stehen. Wie mannigfaltig[473] daher die Veranlassungen Begriffe mit einander zu vergleichen u. den Beziehungen der Dinge u. Ereignisse nachzugehen, um zu bestimmen, wie sie sich zu einander verhalten, u. wie verschiedenartig die Richtungen sind, in welchen dies geschieht, so vielfach ist der Gebrauch des Begriffes V. Daher die Ausdrücke: logische, mathematische, ästhetische, moralische, gesellschaftliche, politische, religiöse V-e, Naturverhältnisse, V-e der Farben, der Töne, der chemischen Stoffe, Witterungsverhältnisse etc. Ein Verhältnißbegriff heißt vorzugsweise ein solcher, dessen Bedeutung wesentlich auf seiner Beziehung zu einem anderen beruht, z.B. Centrum u. Peripherie des Kreises, oben u. unten, Gläubiger u. Schuldner etc. Eine Verhältnißbestimmung ist eine Eigenschaft einer Sache od. ein Merkmal eines Begriffes, welche od. welches ihnen nicht an sich selbst, sondern lediglich in ihrer Beziehung auf andere u. in der Vergleichung mit anderen zukommt; 2) (Math.), die Angabe durch Zahlen, wie unter zwei gleichartigen Größen die eine aus der anderen entsteht. Die hierzu nothwendige Vergleichung beider Größen kann von einem doppelten Gesichtspunkte ausgehen: man fragt entweder um wie viel, od. wie viel Mal ist die eine größer od. kleiner als die andere; im ersten Falle erhält man ein arithmetisches, im zweiten ein geometrisches V. Die beiden verglichenen Größen heißen Glieder. Beim arithmetischen V. fragt man nach dem Unterschied, beim geometrischen V. nach dem Quotienten beider Glieder; daher wird ein arithmetisches V. durch Benutzung des Zeichens –, ein geometrisches durch: geschrieben. Die durch die Subtraction od. Division gefundene Größe heißt der Name od. Exponent, beim geometrischen auch der Quotient des V-es. Auch nennt man, die erste der beiden verglichenen Größen das Vorderglied, die zweite das Hinterglied des V-es. Ist das V. zwischen zwei Gliedern dem zwischen zwei anderen gleich, so erhält man durch ihre Zusammenstellung eine Proportion (s.d.), z.B. ist 14–9 = 11–6 eine arithmetische, 18:6 = 30:10 eine geometrische Proportion. Unter V. schlechthin ohne ausdrückliche Angabe, welches von beiden genannten Arten gemeint sei, versteht man immer das geometrische. Sind nun, wie dies in der angewendeten Arithmetik immer der Fall ist, die Glieder nicht reine Zahlen, so muß man die Erklärung des Wortes streng so fassen V. ist der Quotient der beiden Zahlen, welche angeben, wie oft ein gemeinschaftliches Maß in beiden Größen enthalten ist. Hieraus folgt, daß man zunächst nur bei commensurabeln Größen, welche ein gemeinschaftliches Maß haben, von V. sprechen kann, u. daß zwischen incommensurabeln eigentlich kein V. besteht. Da dies aber in der Wissenschaft von räumlich od. zeitlich ausgedehnten Größen (Geometrie u. Physik) der Allgemeinheit der Lehrsätze großen Eintrag thun würde, so ist man übereingekommen auch zwischen letzteren den Ausdruck V. zu statuiren u. sagt, daß das V. zweier incommensurabler Größen dem zweier anderer gleich sei, wenn die erste Größe zu einer von der zweiten beliebig viel, u. auch noch so wenig verschiedenen commensurabeln Größe sich nicht so verhalten könne, wie die dritte zu der vierten. In diesem Sinne ist z.B. das V. zweier Parallelogramme Von gleicher Höhe gleich dem V. ihrer Grundlinien, auch wenn diese incommensurabel sind. Um nun auch mit dem V. zweier incommensurabler Größen weiter rechnen zu können, setzt man dafür ein sogenanntes genähertes V., d.i. das V zweier commensurabler, welche von jenen so wenig als man will verschieden sind. So ist z.B. das V. zwischen Durchmesser u. Kreisumfang genähert ausgedrückt durch 1 : 3,14159 Ein V. heißt aus mehreren anderen zusammengesetzt, wenn sein Vorderglied das Product der Vorderglieder u. sein Hinterglied das Product der Hinterglieder der letzteren ist; diese letzteren heißen dann in Bezug auf das zusammengesetzte V. die Theilverhältnisse; z.B. entsteht aus den Theilverhältnissen a : b, i : k, m : n das zusammengesetzte V. aim : bkn. 3) (Mus.), V-e der Intervalle, die möglichst genaue Bestimmung des Abstandes zweier Töne von einander. In der praktischen Musik betrachtet man, zufolge der gleichschwebenden Temperatur, alle gleichnamigen Intervalle auch von gleichem Toninhalt, Nicht so aber in der mathematischen Klanglehre, wo sich gleichnamige Intervalle, wenn sie auf dem Monochord untersucht werden, nicht als solche darstellen. Die V-e, wie sich dieselben aus dem Monochord darstellen, werden nach dem Maß der Saite od. nach der Menge ihrer Schwingungen betrachtet u. in beider Hinsicht durch Zahlen dargestellt. So wird z.B. das Verhältniß der Octave zu ihrem Grundtone durch 2 : 1 od. 1 : 2, od. auch durch die Bruchzahl 1/2 dargestellt, weil die um die Hälfte verkürzte Saite auf dem Monochord genau die Octave angibt. Diese Darstellungsweise ist auf jedes Intervall anwendbar u. kann auch in höheren Zahlen dargestellt werden, z.B. 2/4, 4/8 od. 8/16 = 1/2; doch drückt man die Verhältnisse lieber in den niedrigsten Zahlen aus, sucht sie auf die Wurzelzahlen zu reduciren (Reduction der Verhältnisse). Da auf dem Monochord die Intervalle, welche in der praktischen Musik als völlig gleichklingend mit Hülfe der Temperatur ausgeübt werden, nicht als solche erscheinen, u. sonach z.B. zwischen der übermäßigen Septime c–his, dem kleinen halben Ton dis–es, sich immer noch ein Unterschied herausstellt, so hat man sich genöthigt gesehen außer dem kleinen halben Ton noch kleinere V-e anzunehmen. Es sind diese: das große Lemma 25 : 27, das kleine Lemma 128:135, die Diësis 125 : 128, das syntonische Komma 80 : 81, das diatonische Komma 524288 : 531441, das Schisma 32768 : 32805, das Diaschisma 2025 : 2048. Diese kleinen V-e werden aufgefunden, wenn die Intervalle mit einander verglichen u. ihr Unterschied durch Addition u. Subtraction derselben bestimmt wird. Noch unterscheidet man bei Vergleichung der V-e, ob sie im Raume der Octave ihres Grundtones, od. ob sie über derselben befindlich sind, s.u. Intervall 6). Ferner unterscheidet man gleiche u. ungleiche V-e; von erster Art gibt es nur das V. des Einklanges 1 : 1; alle übrigen sind ungleich, sie werden in drei Hauptgattungen gebracht: das vielfache od. reine (Ratio multiplex), das übertheilige (R. superparticularis) u. das übertheilende V. (R. superpartiens). Vgl. Sorge, Anweisung zur Rationalrechnung etc., Lobenstein 1749, u. Marpurgs Schriften über V. d. I. Vgl. Akustik.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 473-474.
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