[688] Lehrgedicht.
Man kann bey jeder Dichtungsart dem Menschen nüzliche Lehren geben, und dem Verstand wichtige Wahrheiten einprägen; deswegen ist nicht jedes Gedicht, darin es geschieht, ein Lehrgedicht. Dieser Name wird einer besondern Gattung gegeben, die sich von allen andern Gattungen dadurch unterscheidet, daß ein ganzes System von Lehren und Wahrheiten, nicht beyläufig, sondern als die Hauptmaterie im Zusammenhang vorgetragen, und mit Gründen unterstüzt und ausgeführt wird.
Es scheinet zwar, daß der Unterricht, oder der Vortrag zusammenhangender Wahrheiten, und die gründliche Bevestigung derselben, dem Geist der Dichtkunst entgegen sey, welcher hauptsächlich Lebhaftigkeit, Sinnlichkeit, und die Abbildung des Einzelen erfodert, da die unterrichtende Rede auf Richtigkeit, und Deutlichkeit sieht, auch abgezogene allgemeine Begriffe, oder Säze, vorzutragen hat. Besonders erfodert die Untersuchung des Wahren einen Gang, der sich von dem Schwung des Dichters sehr zu entfernen scheinet. Dieses hat einige Kunstrichter verleitet, das Lehrgedicht von der Poesie auszuschließen. Freylich könnte sich die Dichtkunst mit dem Vortrag zusammenhangender Wahrheiten nicht bemengen, wenn sie nothwendig so müßten vorgetragen und bewiesen werden, wie Euklides oder Wolf es gethan haben. Es giebt aber gründliche Systeme von Wahrheiten, die auf eine sinnliche, dem anschauenden Erkenntnis einleuchtende Weise können gesagt werden; wovon wir an Horazens und Boileaus Werken über die Dichtkunst, an Popens Versuch über den Menschen, an Hallers Gedicht über den Ursprung des Uebels und manchem andern Werke dieser Gattung, fürtrefliche Beyspiele haben, denen man, ohne in verächtliche Spizfündigkeiten zu verfallen, den Namen sehr schöner Gedichte nicht versagen kann. Wir werden auch hernach zeigen, daß dem Lehrgedicht nicht blos überhaupt ein Plaz unter den Werken der Dichtkunst einzuräumen sey, sondern daß es so gar unter die wichtigsten Werke derselben gehöre. Obgleich die Entdekung der Wahrheit ofte das Werk eines kalten und gesezten philosophischen Nachdenkens ist, so bleibet doch der nachdrükliche und eindringende Vortrag derselben allemal ein Werk des Geschmaks.1 Wahrheiten, welche durch die mühesamste Zergliederung der Begriffe sind entdekt worden, können meistentheils auch dem blos anschauenden Erkenntnis im Einzeln sinnlich vorgestellt, und einleuchtend vorgetragen werden. Geschiehet dieses mit allen Reizungen des Vortrages, so entstehet daraus das eigentliche Lehrgedicht. [688] Sein Charakter besteht demnach darin, daß es ein System von Wahrheiten, mit dem Reiz der Dichtkunst bekleidet, vortrage. Der sinnliche, mit Geschmak verbundene Vortrag des Redners, von dem in dem vorhergehenden Artikel gesprochen worden, ist hier noch nicht hinreichend. Vielweniger kann man mit Batteux sagen, daß überhaupt, Wahrheit in Verse gebracht, ein Lehrgedicht ausmache. Der Dichter, der durchgehends noch sinnlicher ist, als der Redner, mahlt den Gegenstand lebhafter; er nihmt überall, wo es möglich ist, die Begriffe und Vorstellungen von dem, was in der körperlichen Welt, am leichtesten und hellesten in die Sinnen fällt, um dem Geiste dadurch die abgezogenen allgemeinen Vorstellungen desto lebhafter vorzubilden. Ofte, wo der Redner den Gegenstand blos nennt, weil schon der Name ihn in der Einbildungskraft des Zuhörers zeichnet, liebt der Dichter ihn auszubilden, und mit Farben zu bekleiden. Der höhere Grad der Sinnlichkeit verursacht auch, daß der Dichter durchaus seinen Charakter behält. Er nihmt ihn nicht nur in einzelen Stellen an; sondern auch da, wo er die abstraktesten Wahrheiten vorzutragen hat. Ueberall merkt man, daß er die Wahrheit nicht blos erkennet, sondern stark fühlet; und da, wo sie an Empfindung gränzet, überläßt er sich bisweilen derselben, und mahlet im Vorbeygang leidenschaftliche Scenen, die mit seinem Inhalt verwandt sind, in dem Ton des epischen Dichters. Man kann überhaupt sagen, daß das Lehrgedicht in seinem Ton viel Aehnlichkeit mit dem epischen Gedicht habe. Der lehrende Dichter ist von einem System von Wahrheiten, eben so gerührt und eingenommen, wie es der epische Dichter von einer großen Handlung ist. Daher kann auch das, was wir von dem Charakter des epischen Gedichts gesagt haben, auf das Lehrgedicht angewendet werden. Obgleich der lehrende Dichter von seinem Gegenstand durchdrungen ist; so wird er davon nicht so ganz hingerissen, wie der lyrische Dichter. Nur hier und da, fällt er ganz in das Leidenschaftliche, und nihmt wol gar den hohen lyrischen Ton an, von dem er aber bald wieder auf seinen Inhalt kommt. In dem ganzen Umfange der Dichtkunst ist kaum eine Art der Reizung, wodurch die vorgetragene Wahrheit einen lebhaften Eindruk macht, die der Dichter nicht in den verschiedenen Theilen des Gedichts anbringen könnte. Bald zeichnet er die Wahrheit in lebhaften Gemählden, bald kleidet er sie in rührende Erzählungen ein; bald in pathetische Ermahnungen: izt führet er uns auf unsre eigene Empfindungen, um uns von der Wahrheit zu überzeugen; denn läßt er sie uns in andern Menschen fühlen. Auf so mannigfaltige Weise kann er die Wahrheit einleuchtend und würksam machen.
Es scheinet, daß das Lehrgedicht, wie gesagt, zu seinem Inhalt ein ganzes System von Wahrheiten erfodere; weil man auch einem langen Werk, das eine Menge einzeler, unter sich nicht zusammenhangender Lehren und Sittensprüche, wie die Sprüche Salomons, oder die Lehren des Jesus Sirach, in zusammenhangenden Versen vortrüge, schwerlich den Namen des Lehrgedichts geben würde. So bald aber die vorgetragenen Wahrheiten, als einzele Theile eines ganzen Systems zusammenhangen, da kann sinnliche Anordnung, Verhältnis der Theile, und jede andre Eigenschaft, wodurch eine Rede zum Werk des Geschmaks wird, im Ganzen statt haben. Daher hat das Lehrgedicht, wie die Epopöe, ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende; weil ohne dieses kein System statt hat. Der Dichter übersieht den ganzen Umfang seiner Materie, und ordnet aus den Theilen derselben ein Ganzes, das ohne Mühe zu übersehen ist, und die Vorstellungskraft lebhaft rühret.
Vielleicht aber ist zum Charakter des Lehrgedichts nicht nothwendig, daß es Wahrheiten, die blos durch richtige Schlüsse erkannt werden, zum Inhalt habe. Sollten in diese Gattung nicht auch die Gedichte gehören, die uns ein wolgeordnetes Gemählde von einem System vorhandener Dinge, die aus Erfahrung und Beobachtung erkannt werden, darstellen, wie Thomsons Gedichte von den Jahrszeiten, und Kleists Frühling? Wenigstens scheinen sie zunächst an das Lehrgedicht zu gränzen. Von dieser Art wär ein Gedicht, das uns die Einrichtung und die vornehmsten Geseze eines Staats in einem System vortrüge. Auch der lehret, der uns von vorhandenen Dingen, deren Beschaffenheit und Zusammenhang unterrichtet. An diese Art des Lehrgedichtes würde sich auch das blos historische Gedicht anschließen, das eine Reyhe wahrer Begebenheiten enthielte. Also scheinet Batteux nicht ganz unrecht zu haben, wenn er das blos historische Gedicht auch in diese Gattung sezet. [689] Wir haben Lehrgedichte, und man erkennet sie einstimmig für solche, darin zusammenhangende Systeme speculativer Untersuchungen vorgetragen werden, wie das Gedicht des Lukretius von der Natur der Dinge, Hallers Gedicht vom Ursprung des Uebels, Popens vom Menschen, Wielands von der Natur der Dinge und andre mehr: andre tragen Theorien von Künsten, oder auch ganze Systeme praktischer Regeln vor, wonach gewisse Geschäfte sollen getrieben werden, wie des Hesiodus Gedicht, die Arbeiten und die Tage; Virgils Georgica, Horaz und Boileau, von der Poetik; du Frenoy und andre von der Mahlerkunst: endlich haben wir auch Gedichte, die wolgeordnete und ausführliche Gemählde natürlicher und sittlicher Dinge enthalten, wie Hallers Alpen, Thomsons Jahrszeiten, und Kleists Frühling. Auch blos sittliche Schilderungen des Menschen, oder der allgemeinen moralischen Natur, sind ein Stoff zum Lehrgedicht. Nicht ohne Grund könnte man auch solche Gedichte, wie Bodmers über den Charakter der deutschen Dichter, und seine Wolthäter der Stadt Zürich sind, hieher rechnen.
Daß diese Gattung wichtig sey, ist bereits erinnert worden; aber die Sache verdienet eine nähere Betrachtung. In jeder Art der menschlichen Angelegenheiten, in jedem Stand, jeder gesellschaftlichen Verbindung, ist eine lebhafte und sich ans Herz anschließende Kenntnis, gewisser sich auf dieselbe beziehender Wahrheiten, allemal der Grund, wo nicht gar aller guten Handlungen, doch des durchaus guten und rechtschaffenen Betragens. Der Mensch, dessen Herz von der Natur auf das beste gebildet worden, kann nicht allemal gut handeln, wenn er blos der Empfindung nachgiebt. Erst durch ein gründliches System praktischer Wahrheiten, wird der Mensch von gutem Herzen, zu einem vollkommenen Menschen. Nur dieses stellt ihm jedes besondere Geschäft, und jede Angelegenheit in dem wahren Gesichtspunkt vor, der ihm ein richtiges Urtheil davon giebt, und seine Entschließungen auf das rechte Ziel lenket. Es ist das Werk der Philosophie diese Wahrheiten zu entdeken; aber die Dichtkunst allein, kann ihnen auf die beste Weise die würksame Kraft geben. Was der reine Verstand am deutlichsten begreift, wird am leichtesten wieder ausgelöscht, weil es an nichts sinnlichem hängt. Der Dichter ist nicht nur durchaus sinnlich, sondern sucht unter den sinnlichen Gegenständen die kräftigsten aus; an diese hänget er die Begriffe und Wahrheiten, und dadurch werden sie nicht nur unvergeßlich, sondern auch einnehmend, weil sich die Empfindung einigermaaßen damit vermischt.
–– Aus ihrem Bilderschatz
Schmükt sie sie reizend aus und nihmt der Gründe Plaz.2
Der lehrende Dichter sucht in dem Umfang der uns allezeit gegenwärtigen sinnlichen Gegenstände die lebhaftesten aus; braucht sie als Spiegel, darin unsre Begriffe mit voller Klarheit abgemahlt sind, und dadurch unsre Urtheile festgesezt werden. Daher geschiehet es, daß wir uns derselben bey gar mannigfaltigen Gelegenheiten wieder erinnern. Da er endlich nicht nur jedes einzele mit allen Annehmlichkeiten des Wolklanges, sondern auch sein ganzes System in einem schönen, aber sinnlich faßlichen Plan vorträgt, und den Vortrag selbst durch alle Reizungen einnehmend macht; so muß jeder Mensch von Geschmak Lust bekommen, ihn nicht nur ofte zu lesen, sondern auch alles lebhaft im Gedächtniß zu behalten.
Hieraus siehet man aber auch, daß alle Dichtergaben zusammen kommen müssen, um in dieser Gattung völlig glüklich zu seyn. Die fließendste Harmonie des Verses, die schönsten Farben des Ausdruks, die kräftigsten Bilder, und im Ganzen die schlaueste Kunst der Anordnung, sind hier mehr, als irgendwo nothwendig, damit sich alles recht lebhaft einpräge. Lukretius hat nur in einzelen Stellen seines Gedichts, allen diesen Foderungen genug gethan; aber an dem meisten Orten ist er doch zu troken; da hingegen Virgil sich durchaus als einen großen Dichter gezeiget hat. Unter uns kann Haller zum Muster dienen, und in einigen, was die Stärke des Ausdruks, und die Wahl der Bilder betrift, auch Witthof, dessen Vers aber nicht den erfoderlichen Wolklang hat. Wieland hat sich in seiner ersten Jugend in dieses Feld begeben, und es ist zu wünschen, daß er noch einmal dahin zurükekehre, wo es ihm leicht seyn würde seinen besten Vorgängängern in allen Stüken gleich zu kommen, in einigen aber, sie zu übertreffen. Er wäre vollkommen im Stande die Anmerkung eines unsrer Kunstrichter zu wiederlegen, daß unsre Lehrdichter nur denn fürtreflich seyn, wenn sie abstrakte Lehren der Weltweisheit vortragen, hingegen sehr fallen, wenn sie [690] sich zu den Sitten der Länder und Menschen herablassen.3
Ein Dichter von Wielands Geist könnte sich einen unsterblichen Namen machen, wenn er Leibnizen würde, was Lukretius dem Epicur ist. Nie ist ein erhabeneres System der Philosophie erdacht worden, als das Leibnizische, das auch zugleich wegen der Kühnheit vieler seiner Lehren, die das höchste enthalten, was der menschliche Verstand jemals wagen wird, recht für den hohen Flug der Dichtkunst gemacht zu seyn scheinet. Seine Begriffe von einzelen Wesen, und eines jeden besonderer Harmonie mit dem Ganzen, von den Monaden, von der Seele; seine allgemeine vorhergeordnete Harmonie, seine Stadt Gottes –. Was kann ein philosophischer Poet grössers wünschen? Auch könnte man einen fürtreflichen Stoff zum Lehrgedichte von den Grundwahrheiten und Grundmaximen einer weisen Staatsverwaltung hernehmen. Was für unvergleichliche Gelegenheiten zu den reizendsten Gemählden würde er nicht an die Hand geben? Zu wünschen wär auch, daß ein dazu geschikter Dichter ein großes Lobgedicht auf die vornehmsten Wolthäter des menschlichen Geschlechts ausarbeitete. Er würde Gelegenheit haben, darin zu lehren, in was für einem Zustande die Menschen seyn könnten, wenn einmal Vernunft und Sitten den höchsten Grad, dessen die menschliche Natur fähig ist, würden erreicht haben. Denn würde er allen großen Männern, die zum besten der Menschen, Künste, Geseze, Wissenschaften erfunden haben, ihr verdientes Lob ertheilen, und dadurch andre Genie zur Nacheyferung reizen. Ein sehr herrlicher und reicher Stoff. Selbst einige besondere, für das menschliche Geschlecht höchst wichtige Wahrheiten, von der göttlichen Oberherrschaft über die Welt, von der Unsterblichkeit der Seele, von der Wichtigkeit der Religion, sind zwar von einigen neuern Dichtern behandelt worden; aber noch gar nicht in dem Maaße, daß man damit zufrieden seyn könnte. Hier ist also für die Dichter noch ein überaus fruchtbares Feld, wie ganz neu zu bearbeiten. Um so vielmehr ist zu wünschen, daß die Kunstrichter nicht so schnell seyn möchten, unsren jungen Dichtern, die in verschiedenen Kleinigkeiten, ein schönes dichterisches Genie gezeiget haben, durch gar zu ungemessenes Lob, die Einbildung einzuflößen, als ob sie izt schon in das Verzeichnis der großen Dichter gehören, die durch ihre Gesänge sich um das menschliche Geschlecht verdient gemacht haben. Dies ist eben so viel, als wenn man einen jungen Philosophen deswegen, daß er etwa eine metaphysische Erklärung richtiger, als andre gegeben, oder einige Säze gründlicher, als bis dahin geschehen ist, bewiesen hätte, neben Leibnitzen, oder Wolfen stellen wollte. Wer historische Nachrichten und verschiedene critische Bemerkungen über alle Lehrgedichte der Alten und der Neuern, zu haben wünschet, wird auf Hr. Duschens Briefe zur Bildung des Geschmaks verwiesen.
Die Alten hatten die Gewohnheit, dem auch die meisten Neuern gefolget sind, ihre Lehrgedichte allemal jemanden zuzuschreiben, und Servius hält dieses so gar für nothwendig, quia præceptum et doctoris et discipuli personam requirit. Aber Virgil hat gewiß den Mecänas nicht für seinen Schüler angesehen.
Zu dem Lehrgedichte können auch die Satyren und die lehrenden Oden und Lieder gerechnet werden; davon aber wird in den besondern Artikeln über ihre Gattung gesprochen.
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