[910] Poetisch; Poetische Sprache.
Poetisch nennt man jede Sache deren Art, oder Charakter sich zum Gedicht schikt. Eine poetische Phantasie, ein poetischer Einfall, ein poetischer Ausdruk. Wir haben in verschiedenen Artikeln dieses Werks den poetischen Charakter mancherley Eigenschaften und Gegenstände betrachtet; als z.B. das poetische Genie, den poetischen Stoff, die poetische Behandlung eines Stoffes und dergleichen. Dieser Artikel ist der Betrachtung der poetischen Sprach gewidmet, dem was die französischen Kunstrichter poesie du Stile nennen.
Man sieht überhaupt, daß sowol der dauernde Gemüthscharakter, als der vorübergehende launige oder leidenschaftliche Zustand des Menschen, einen merklichen Einflus auf seinen Ausdruk und seine Art zu sprechen haben. Wie also die Sprach eines spaßhaften Menschen im Ausdruk und in den Wendungen etwas von diesem Charakter hat, so bekommt sie auch durch das poetische Genie überhaupt, denn besonders durch die Art der Laune, oder der Begeisterung, darin der Dichter sich jedesmal befindet, ein besonderes Gepräg, und wird zur poetischen Sprache. [910] Da überhaupt der Dichter sich alles stärker und lebhafter vorstellt, als andre Menschen, da seine feurige Einbildungskraft den leblosen Dingen selbst Leben giebt; so findet man in seiner Sprach auch diese Lebhaftigkeit und eine alles belebende Phantasie. Weil sein Gemüthszustand währendem Dichten etwas außerordentliches hat, so hat es seine Sprach ebenfalls. Welcher Mensch würde in einer gemeinen und gewöhnlichen Gemüthsfassung sich, wenn er sagen wollte, er verlasse den großen Haufen derer, die nach Reichthum trachten, und begnüge sich mit dem höchst nothdürftigen so außerordentlich ausdrüken, wie Horaz.
–– Nil cupientium
Nudus castra peto et transfuga divitum
Partes linquere gestio.
Wer, als ein in den höchsten poetischen Enthusiasmus gesezter Mensch würde, anstatt – Siehe! Cäsar den man tod gesagt hatte, kommt siegreich aus Spanien zurüke – sich so feyerlich, als Horaz ausdrüken:
Herculis ritu modo dictus, o, plebs
Morte venalem petiisse laurum
Cæsar hispana repetit penates
Victor ab ora.
Es ist nicht wol möglich jede Würkung des poetischen Geistes, auf die Sprache anzuzeigen; sie kann sich auf jede Kleinigkeit derselben erstreken. Vielweniger lassen sich eigentliche Gränzen bestimmen, wo die gemeine Sprach aufhöret, und die poetische anfängt. Den eigentlichen förmlichen Vers rechnen wir nicht hieher; weil er aus überlegter Kunst entstanden ist; und weil die Sprach auch ohne ihn sehr poetisch seyn kann. Bisweilen würket der poetische Geist nur auf den Ton und den Gang der Rede, die ohne Veränderung des Ausdruks, blos durch andre Ordnung vom poetischen ins prosaische kann heruntergesezt werden. Folgende schöne Strophe
Viel zu theuer durchs Blut blühender Jünglinge,
Und der Mutter und Braut nächtliche Thrän' erkauft,
Lokt mit Silbergetön ihn die Unsterblichkeit
In das eiserne Feld umsonst!
könnte mit Beybehaltung jedes Worts, blos durch veränderte Stellung derselben in eine zwar edle, aber gar nicht poetische Prose verwandelt werden. Umsonst lokt ihn die Unsterblichkeit u. s. w. Nur die Ausdrüke Silbergetön und das eiserne Feld, müßten etwas herabgestimmt werden. Folgendes Beyspiehl zeiget, daß ohne ein einziges Wort zu verändern, eine schöne poetische Rede in eine völlig gemeine könne verwandelt werden. Niemand wird sagen, daß folgende Rede poetisch sey. Equidem rex, inquit, fatebor tibi cuncta, quæcumque fuerint vera; neque negabo me de gente argolica: hoc primum. Nec si improba fortuna finxit Sinonem miserum, finget etiam vanum mendacemque, und doch wird sie, durch andre Ordnung, ohne Veränderung einer einzigen Sylbe in eine schöne poetische Rede vewandelt.
Cuncta equidem tibi Rex fuerint quæcumquo satebor,
Vera, inquit; neque me argolica de gente negabo.
Hoc primum; nec si miserum fortuna Sinonem
Finxit, vanum etiam mendacemque improba singet.1
Andremale kommt zu der ungewöhnlichen poetischen Ordnung und dem empfindungsvollen Gang noch das hinzu, daß die Verbindungs- und Beziehungswörter vom Dichter übergangen werden, und daß dadurch seine Sprache poetisch wird, wie folgendes, darin sonst kein Ausdruk, als das einzige Wort singen poetisch ist.
Der Liebe Schmerzen, nicht der erwartenden
Noch ungeliebten, die Schmerzen nicht,
Denn ich liebe, so liebte
Keiner! so werd ich geliebt!
Die sanftern Schmerzen, welche zum Wiedersehn
Hinbliken, welche zum Wiedersehn
Tief aufathmen, doch lispelt
Stammelnde Freude mit auf!
Die Schmerzen wollt ich singen ––2
Durch gehörige Versezungen und Einschaltung der von dem Dichter übergangenen Verbindungs- und Beziehungswörter könnte man diese recht pindarische Strophen in eine gute gar nichts poetisches an sich habenden Rede verwandeln.
Dieses sind die einfachesten aber nicht die leichtesten Schritte zur poetischen Sprache. Man findet bey den erhabensten Odendichtern, als bey Pindar und Klopstok nicht selten dergleichen Strophen, und doch ließt man sie mit Entzükung, blos weil die Stellung und Verbindung der Wörter ihnen einen hohen poetischen Ton geben.
Andremale wird die Sprache durch Einmischung besonders ausgesuchter sehr starker, oder sehr mahlerischer [911] oder auch blos mehr als gewöhnliche Veranstaltung anzeigender Wörter. Haraz führet folgende Stelle des Ennius an:
–– Postquam discordia tetra
Belli ferratos postes portasque refregit.3
in welche die mit andrer Schrift gedrukten Wörter eine merkliche Bestrebung des Dichters, sich stark auszudrüken, anzeigen. Zum Beyspiehl des mahlerischen kann folgendes dienen, das auch der Prosopopöe ungeachtet noch poetisch wäre.
Von des schimmernden Sees Traubengestaden her,
Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf?
Komm in röthendem Strale
Auf dem Flügel der Abendluft,
Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,
Süße Freude, wie du! gleich dem beseelten
Schnellen Jauchzen des Jünglings,
Sanft, der fühlenden Fanny gleich.4
In diese Classe des poetischen rechnen wir auch das blos Veranstalltete, da man gemeinen Wörtern und Namen durch Umschreibung, oder Beywörter einen von der gemeinen Rede abgehenden Charakter giebt. Servius sagt: Amant poetæ rem unius sermonis circumlocutionibus dicere, ut, pro Troja dicunt urbem Trojæ: pro Buthroto, arcem Buthroti: sic pro Timaro Virgilius fontem Timari.
Zulezt nihmt die poetische Sprache die lebhaftesten und leidenschaftlichsten Figuren, die kräftigsten und kühnesten Tropen, und die ungewöhnlichsten Wendungen der Sprache zu Hülfe. Der Ausdruk muß jede Sache, die die Einbildungskraft des Dichters gerührt hat, vergrößern oder verkleinern. Der Raum des Himmels wird izt zum Ocean der Welten, die Erde zum Tropfen am Eymer, und das Vergnügen fühlende Herz vergeht in Entzükung.5 Leblose Dinge bekommen Leben und Handlung, und die reinesten Vorstellungen des Verstandes werden in körperliche Gegenstände verwandelt. Dadurch geschieht es, daß alle Gedanken in blos sinnliches Gefühl verwandelt werden.
An dieser poetischen Sprach erkennet man den wahren Dichter, und es scheinet, daß schon Horaz darin das Wesen der Dichtkunst gesezt habe,6 und die Neuern erkennen eben deswegen eine prosaische Poesie, und eine poetische Prose. »Dieser Theil der Dichtkunst (die Poesie des Stils) sagt ein scharfsinniger Kunstrichter, ist der wichtigste und zugleich der schweerste. Die Bilder zu erfinden, welche das, was man sagen will, schön mahlen; den eigentlichen Ausdruk zu treffen, der dem Gedanken ein fühlbares Wesen giebt, dieses (nicht der Reim) ist die Kunst, wozu ein göttliches Feuer nöthig ist. Ein mittelmäßiger Kopf kann durch langes und genaues Nachdenken einen regelmäßigen Plan machen, und seinen Personen anständige Sitten geben: aber nur der, welcher zur Kunst gebohren ist, kann seinen Vers durch Dichtung und Bilder beleben.«7
Es ist zwar das allgemeine Genie aller Menschen, daß sie Gedanken und Begriffe, um sie recht zu fassen, ein körperliches Wesen geben, und in so fern sind wir alle, nur den abstrakten Philosophen ausgenommen, Poeten. Aber nicht jeder hat Genie, Lebhaftigkeit und Reichthum der Phantasie, Richtigkeit des Gefühls genug, seine Gedanken mit solchen Körpern zu bekleiden, die sie zugleich in der genauesten Aehnlichkeit oder Wahrheit, und größten Klarheit und Lebhaftigkeit vorstellen. Dieses ist den vorzüglichen Genien, die dann eigentlich Dichter genennt werden, vorbehalten.
Der Vollkommenheit der poetischen Sprach ist es zuzuschreiben, daß Gedanken, die wir selbst tausendmal auch schon gedacht haben, uns so inniglich ergözen, wenn wir sehen, wie neu und wie vollkommen sie der Dichter eingekleidet hat; wenn wir neue und unerwartete, doch höchst richtige Aehnlichkeiten zwischen dem geistigen und dem körperlichen wahrnehmen, die nur der feineste Scharfsinn entdeken, und der beredteste Mund ausdrüken konnte. Die poetische Sprach ist es also, die uns in den Gedichten am meisten reizt.
Aber wir müssen nicht vergessen, anzumerken, daß das Poetische der Sprache nur das Kleid der Gedanken sey, dessen nur die Gedanken, die in ihrer nakenden Gestalt nicht genug ästhetische Kraft hätten, bedürfen; daß die Vorstellungen, die ohne diesen poetischen Schmuk Lebhaftigkeit genug haben, auch ohne Poesie der Sprache poetisch sind; daß insonderheit die Sprach eines innigst gerührten Herzens, der geradeste einfacheste Ausdruk starker Empfindungen, diesen Schmuk verschmähen. Wo schöne Gesinnungen, starke Empfindungen, oder auch wahre Machtsprüche der gemeinen Vernunft stehen, bewegen sie für sich selbst, auch in dem einfachesten Ausdruk, hinlänglich. Darum ist eine blumenreiche, oder sonst poetische Sprache bey Aeußerung der Emfindungen[912] ofte sehr nachtheilig, und allemal unnatürlich. Und wo man an sich große Gegenstände zu beschreiben hat, da därf man nur auf gute Anordnung und richtige Zeichnung sehen; das Feine des Colorits thut wenig dabey.
Adelung-1793: Poetisch · Sprache, die
Brockhaus-1837: Römische Sprache und Literatur · Spanische Sprache, Literatur und Kunst · Sprache · Griechische Sprache und Literatur · Hebräische Sprache und Literatur · Niederländische Kunst, Literatur, Sprache und Wissenschaft
Brockhaus-1911: Poetische Lizénz · Hebräische Sprache · Griechische Sprache · Holländische Sprache und Literatur · Isländische Sprache und Literatur · Irische Sprache und Literatur · Französische Sprache · Flämische Sprache und Literatur · Friesische Sprache · Gotische Sprache · Georgische Sprache · Kroatische Sprache · Koreanische Sprache · Kymrische Sprache · Lettische Sprache · Lateinische Sprache · Japanische Sprache · Italienische Sprache · Javanische Sprache · Katalanische Sprache · Jenische Sprache · Arabische Sprache und Schrift · Angelsächsische Sprache und Literatur · Armenische Sprache · Balinesische Sprache · Äthiopische Sprache · Altnordische Sprache und Literatur · Altbaktrische Sprache · Altpreußische Sprache · Amharische Sprache · Altslawische Sprache · Baltische Sprache · Deutsche Sprache · Dänische Sprache und Literatur · Englische Sprache · Finnische Sprache und Literatur · Estnische Sprache und Literatur · Böhmische Sprache und Literatur · Bengalische Sprache · Bulgarische Sprache · Cornische Sprache · Chinesische Sprache, Schrift und Literatur
Meyers-1905: Poetische Lizenzen · Poetische Epistel
Pierer-1857: Poëtisch · Poëtische Erzählung · Poëtische Licenz · Poëtische Beschreibung · Poëtische Epistel
Buchempfehlung
In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro