Rational

[627] Rational oder rationell heißt vernünftig oder der mit Hülfe von Nachdenken durch die Vernunft erlangten Erkenntniß und Einsicht entsprechend; das Gegentheil drükt irrational aus. In wissenschaftlicher Beziehung wird rational oft dem Empirischen, d.h. dem blos auf Erfahrung Beruhenden entgegengesetzt. – Der Rationalismus, ein neueres Schulwort der Theologie, ist im Allgemeinen die Denk- und Handlungsweise, welche das Vernünftige zur Richtschnur nimmt und den Einsichten und Entscheidungen der Vernunft folgt, mag dieselbe nun in irgend einem Geschäft des gewöhnlichen Lebens, oder einem Zweige der Kunst und Wissenschaft, oder auf dem Gebiete der Religion und Sittlichkeit sich geltend machen. Der Rationalismus steht in dieser Bedeutung dem Positiven, dem Herkömmlichen, dem blos auf äußerlichem Ansehen Beruhenden entgegen, indem er nicht blos darum etwas für wahr und richtig hält, weil es so angenommen ist und irgend ein Ansehen für sich hat, sondern weil er es aus Gründen der Vernunft, die sich auf die tiefste Erforschung des Wesens des Dinges selbst stützen, erkannt hat. Daß dieser Grundsatz an sich nicht zu verwerfen, vielmehr des gerechten Beifalls und der vollen Anerkennung würdig sei, geht daraus hervor, daß der Mensch, als vernünftiges Wesen, auch von den Einsichten und Urtheilen der Vernunft sich leiten und bestimmen lassen soll. In der engern und theologischen Bedeutung nun, welche die gebräuchlichere ist, bezeichnet der Rationalismus eine solche Denk- und Anschauungsweise auf dem Gebiete der Religion. Weit entfernt, den göttlichen Ursprung der Religion in einer übernatürlichen Offenbarung (s.d.) unbedingt anzuerkennen, ist er vielmehr versucht, denselben in einer natürlichen Offenbarung Gottes nachzuweisen und die sogenannte geoffenbarte Religion sowol nach ihrem Ursprunge als nach ihrem Inhalte für Vernunftreligion zu halten. In dieser Bedeutung steht der Rationalismus dem Supernaturalismus (s.d.), der das höchste Gesetz der Religion in einer heiligen Überlieferung als übernatürlicher Offenbarung Gottes sucht, und dem Mysticismus (s.d.), der sich ihrer in einem geheimen Einwirken Gottes auf die menschliche Seele bewußt wird, entgegen. Die Gründe, worauf der Rationalismus seine Behauptung stützt, daß alle Religion aus der natürlichen Offenbarung Gottes in der Vernunft, nicht aber aus der übernatürlichen Offenbarung in der Schrift geflossen sei und daß die christliche Religion, die das Ansehen göttlicher Offenbarung hat, Vernunftreligion sei, sind theils aus dem Begriff der Offenbarung selbst genommen, wofür es keinen Beweis gebe, theils aus dem Inhalt derselben, der sehr wohl als ein Ausfluß der Vernunft gedacht werden könne, theils endlich aus Dem, was das eigne Nachdenken, die Erfahrung und die Geschichte zu Gunsten derselben spricht. Was der Mensch mit seiner Vernunft erkenne, das kündige sich ihm als göttliches Gebot an; diesem zu folgen sei er verbindlich, die Offenbarung darum blindgläubig anzunehmen, eine Art Entwürdigung des Menschen. Allen Geschöpfen seien vom Schöpfer die Kräfte verliehen, deren sie zu ihrer Bestimmung bedürften, so sei auch der Mensch, erhaben über die übrigen Geschöpfe, durch die Vernunft von Gott befähigt, seine Bestimmung, die der religiös-sittlichen Vollkommenheit, zu erreichen. Suche ferner der Mensch die Erscheinungen der Sinnenwelt auf zureichende Ursachen zurückzuführen und verschwinde das Wunderbare in der Natur, wo [627] dies geschehe, so verliere auch im Zusammenhange mit den Gesetzen des denkenden Geistes die Religion das Wunderbare einer übernatürlichen Offenbarung. Gebe es dann mehre Religionen, die sich das Ansehen göttlicher Offenbarung beimessen, und müsse sich ihrerseits die Vernunft selbst rathen, welches die wahre oder falsche, die bessere oder unvollkommenere sei, so liege auch hierin ein wichtiger Grund, daß nicht die Offenbarung über der Vernunft, sondern diese über der Offenbarung stehe und selbst die erste und vornehmste Offenbarung Gottes an die Menschheit sei. Endlich sei es die vorherrschende religiöse Weltansicht, des Alterthums, die Religion, wie sie zu Gott führe, so auch von ihm als übernatürliche Offenbarung herzuleiten, ungeachtet sie selbst die unter seiner besondern Führung entwickelte Vernunftreligion sei. Demnach dringt der Rationalismus im Gegensatz gegen den Offenbarungsglauben auf religiöse Selbständigkeit, daß nämlich die Religion ein nicht von außen Gegebenes, sondern das freierworbene Eigenthum des denkenden Menschengeistes sei. Dabei ist er jedoch so weit entfernt, die Offenbarung in der h. Schrift und ihren religiösen Inhalt zu verwerfen, daß er vielmehr derselben einen hohen entschiedenen Werth beilegt, wenngleich in einem andern Sinne als der Supernaturalismus. Denn erkennt dieser in derselben die höhern Mittheilungen religiöser Wahrheiten Gottes an die Menschen, so hält jener eben dieselben für die Erkenntnisse der höhern Vernunfteinsicht, wie dieselbe Moses, die Propheten, Christus und seine Apostel auf gleich große und bewunderungswürdige Weise besaßen. Obwol demnach das Christenthum das Menschlich-Höchste der Religion ist und Christus selbst die Bewunderung des Weisesten aller Menschen sich erwarb, so ist dasselbe gleichwol nicht frei von den Hüllen der Zeit, in der es erschien, und so hält es auch der Rationalismus für seine Aufgabe, dieselben vor dem prüfenden Richterstuhle der Vernunft abzustreifen und das Christenthum zur reinen Religion der Vernunft zu erklären. In dieser Bedeutung trat der Rationalismus erst in neuester Zeit auf, nachdem er selbst durch die Freigeisterei und die philosophischen Bestrebungen des vorigen Jahrh. vielfach vorbereitet worden war, im steten Kampfe mit dem Supernaturalismus und Mysticismus und ist von großen Meistern der Wissenschaft vertreten und gefördert worden, und wo immer ein höheres, wissenschaftliches Streben auf dem Gebiete der Theologie sich geltend macht, wird auch der unwiderstehliche Einfluß rationaler Grundsätze herrschen.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 627-628.
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