[56] Ballistik. Die neueren Begebungen, die Streuung der Geschosse zu verringern, sowie die namentlich in der französischen Marine aufgetretenen Katastrophen infolge Zersetzung des Pulvers haben in allen Marinen ein erhöhtes Interesse für die innere Ballistik und ihre Grundelemente wachgerufen.
Die innere Ballistik behandelt die Bewegungsgesetze des Geschosses im Rohr bis zum Verlassen der Mündung, die Druckverhältnisse der Treibgase im Geschützrohr und ihre Treibkraft zur Bewegung der Geschosse, sowie die Beanspruchungen, welchen Rohr und Geschoß beim Schuß ausgesetzt sind.
Die in der inneren Ballistik gebräuchlichen Grundbegriffe sind folgende:
Verbrennungsraum ist der Raum zwischen Geschoßboden, den Rohrwänden und der vorderen Fläche des Verschlusses, in welchem das Pulver bei der Entzündung eingeschlossen ist.
Ladedichte ist die auf die Raumeinheit des Verbrennungsraumes entfallende Pulvermenge (kg pro cbdm.).
Ladungsverhältnis ist das Gewicht der Pulverladung L auf die Gewichtseinheit des Geschosses G, also L : G.
Verbrennungstemperatur ist die höchste, während der Verbrennung des Pulvers erreichte Temperatur der. Verbrennungsgase in absoluter Temperatur. T = t + 273°.
Entzündungsgeschwindigkeit des Pulvers ist die Zeit, welche vergeht, bis die Entzündung sich durch die ganze Ladung fortgepflanzt hat.
Verbrennungsgeschwindigkeit des Pulvers ist die Zeit, welche vergeht vom Augenblick der Entzündung bis zur vollständigen Umwandlung des Pulvers in Gasform; sie hängt ab von der Art der Zündung, der Form der Kartusche, der Temperatur des Pulvers, von der Zusammensetzung und Form des Pulvers, von dem Grad seiner Feuchtigkeit. Je größer die Entzündungs- und je kleiner die Verbrennungsgeschwindigkeit werden, um so schneller wächst der Gasdruck, um so schärfer wird das Pulver, je langsamer der Druck zunimmt und die Verbrennung erfolgt, um so milder nennt man es. Diese Eigenschaften des Pulvers hängen vornehmlich von der Form des Pulvers ab; die Kugel- und Würfelform wirkt am schärfsten, die Röhrenform am mildesten.
Das spezifische Volumen des Pulvers W0 ist der Raum, den die von 1 kg Pulver erzeugten Gase bei 1 Atm. Druck und 0° C. annehmen.
Die Kraft des Pulvers ist der Druck, den die Verbrennungsgase von 1 kg Pulver ausüben, wenn ihnen als Raummaß 1 cbdm, vermehrt um die nachfolgende Größe α, zur Verfügung steht. p = p0/T0 · 100 · T = R · T, worin p0 = 1 Atm.
Covolumen α, ein Begriff der kinetischen Gastheorie, d.h. der Raum, auf den sich die nach der Theorie hin und her schießenden Moleküle der Gewichtseinheit des Pulvers zusammendrücken lassen. α ist für alle Gase annähernd 1/1000 des spezifischen Volumens.
Die spezifische Wärme des Pulvergases ist die Wärmemenge, in Kalorien gemessen, welche nötig ist, um 1 kg Gas von 0° auf 1° C. zu erwärmen. Man unterscheidet eine spezifische Wärme bei gleichbleibendem Druck cp und eine bei gleichbleibendem Volumen cv beide Größen sind veränderlich, doch ist ihr Verhältnis (cp : cv) annähernd konstant bei allen Gasen. Dieses Verhältnis ist wichtig bei der adiabatischen Ausdehnung der Gase im Rohr. In dem Gesetz von Poisson, das hierfür Geltung hat, (w1 : w2)k = p2 : p1 bedeutet k das Verhältnis cp : cv.
Beim Schuß findet nun eine chemische Umsetzung des Pulvers statt, durch die latente Wärme frei wird und Arbeit leisten kann. Die durch 1 kg Pulver entwickelte Wärmemenge Q, das sogenannte Wärmepotential, steht in einem bestimmten Verhältnis zur Arbeitsteilung, dem sogenannten Arbeitspotential E. Es ist E = K · Q, worin K = 425 ist. Q = 0,00235 E.
Heidenreich gibt an, daß unter der Annahme, daß die Verbrennungsgase sich bis auf 0° abkühlen, von den einzelnen Pulverarten nachstehende Wärmeeinheiten bezw. Arbeitsleistungen geliefert werden:
Diese Arbeitskraft des Pulvers wird nun im Geschützrohr nutzbar gemacht, um dem Geschoß eine bestimmte lebendige Kraft zu erteilen, die Widerstände desselben beim Einpassen der Ringe in die Führungsteile und durch Reibung zu überwinden. Ferner erteilt die Arbeitskraft des Pulvers dem Geschütz eine Bewegung nach rückwärts Rücklauf und gibt Wärme an Rohr und Geschoß ab, während ein Teil der Kraft unausgenutzt bleibt.
Die lebendige Kraft, die dem Geschoß in der Richtung der Seelenachse erteilt wird, überragt alle andern Leistungen. Die Größe dieser lebendigen Kraft, die dem Geschoß von dem Gewicht G von der Gewichtseinheit einer Pulversorte erteilt wird, dient daher zur Beurteilung des Pulvers, man nennt sie Pulververwertung J.
Pulverausnutzung ρ ist das Verhältnis der Pulververwertung J zum Arbeitsvermögen des Pulvers E. ρ = J : E. Der Wert ρ schwankt zwischen 20 und 35%, so daß 8/10 bis 2/3 der verfügbaren Arbeit des Pulvers nicht ausgenutzt werden.
Zur Veranschaulichung der Pulverausnutzung und Klarstellung der Arbeitsweise der verschiedenen Pulversorten dienen die Gasdruckkurven (vgl. die Figur S. 57). Die Ordinaten geben die Gasdrücke, die Abszissen die Geschoßwege an. A B ist die Länge des Verbrennungsraumes, A C die Seelenlänge. Unter der Annahme, daß das Pulver vor Beginn der Geschoßbewegung[56] vergast ist, würde das Gas sich unter Vernachlässigung von Reibung und Wärmeabgabe nach dem Mariotteschen Gesetz p. w. = konstant ausdehnen, und nimmt die Gasdruckkurve die Gestalt einer gleichseitigen Hyperbel an. Das Verhältnis des höchsten Gasdrucks D zum mittleren Gasdruck H, das sogenannte Druckverhältnis η = D : H wäre klein und ungünstig, da das Rohr für den größten Gasdruck gebaut und berechnet werden müßte und dann die lebendige Kraft pro Tonne Rohrgewicht gering wäre. Das Druckverhältnis wird günstiger, je mehr der höchste Gasdruck sich dem mittleren nähert langsamer verbrennendes Pulver. Die Gasdruckkurve B G K entspricht einem schnell verbrennenden, die B H J einem langsamer verbrennenden Pulver. Bei letzterer Kurve ist der Mündungsgasdruck höher; er läßt sich durch Verlängerung des Rohres weiter nutzbar machen, andernfalls werden Pulverreste unverbrannt ausgestoßen, was Cranz photographisch nachgewiesen hat.
Um einer idealen Gasdruckkurve nahe zu kommen, gleichbleibender Druck bei gleicher Beschleunigung, muß die Verbrennungsoberfläche des Pulvers im Verhältnis zum Inhalt desselben so gewählt werden, daß die erzeugte Gasmenge gleichmäßig zunimmt, also die Oberfläche sich vergrößert. Dies wird am günstigsten durch prismatisches Pulver mit trapezförmigen Kanälen erreicht. Nach der Größe des einzelnen Pulverhornes und Aenderung der Entzündungs- und Verbrennungsgeschwindigkeit kann man die Verbrennung des Pulvers und dementsprechend die Gasdruckkurve regeln [2], [3], [6], [7].
Der Einfluß der Verbrennungsweise des Pulvers auf die Treffähigkeit ist nur gering, die letztere hängt wesentlich von der Lafettierung und dem Aufstellungsort der Geschütze ab. Dagegen treten durch nicht gleichmäßige Pulververwertung Schwankungen der Anfangsgeschwindigkeit ein. So ist infolge Temperaturerhöhung des Rohres während des Schießens ein Anwachsen der Anfangsgeschwindigkeit beobachtet worden.
Da man den Verlauf des Gasdrucks aus den physikalischen und chemischen Eigenschaften des Pulvers, der Masse und den Dimensionen der Ladung, des Geschosses und des Rohres theoretisch nicht ermitteln kann, so ist die innere Ballistik gegenwärtig vornehmlich auf das Experiment angewiesen. Die beiden wichtigsten Apparate zur Gasdruckmessung sind der Stauchapparat von Noble und der Rücklaufmesser von Sebert. Die Verbrennungstemperatur des Pulvers, das spezifische Volumen, das Covolumen u.s.w. werden durch besondere Messungen mittels der Versuchsbombe in ähnlicher Weise wie bei Verbrennungsmotoren kalorimetrisch festgestellt.
Die Mündungsgeschwindigkeit wird meistens durch den Boulengé-Apparat festgestellt (Bd. 1, S. 535). In England benutzt man vorzugsweise den Tram-Chronographen. Diese Apparate registrieren die mittlere Geschoßgeschwindigkeit auf der Strecke von 50 m nach der Mündung, woraus dann die eigentliche Mündungsgeschwindigkeit rechnerisch ermittelt wird. Der Siemenssche Funkenchronograph mißt die Geschwindigkeit in nächster Nähe der Mündung. Näheres s. [1], [2]. Zum Messen der Geschoßgeschwindigkeiten von Handwaffen benutzt man neuerdings ein funkenphotographisches (kinematographisches) Verfahren [1], [2], [4], [7].
Die äußere Ballistik, welche die Bewegung des Geschosses außerhalb des Rohres untersucht und die Flugbahn unter Berücksichtigung der in der Praxis auftretenden Störungen feststellt, hat keine wesentlichen Neuerungen erfahren. Bei den neuen Geschützen wird der Drall zunehmend oder parabolisch gewählt. Die Theorie, daß die Geschoßachse sich tangential zur Flugbahn einstellt, ist eine Zeitlang stark angezweifelt, jedoch neuerdings durch eingehende Versuche der Amerikaner erhärtet worden [7].
Literatur: [1] L. Cranz, Ueber die Bewegungserscheinungen beim Schuß, Jahrb. d. schiffsbautechn. Gesellschaft, Berlin 1911. [2] Ders., Lehrbuch der Ballistik, Leipzig 1910. [3] Heydenreich, Die Lehre vom Schuß für Gewehr und Geschütz, Berlin 1908. [4] P. Charbonnier, Balistique exterieure rationnelle, Paris 1907. [5] Ders., Balistique interieure, Paris 1908. [6] Leitfaden für den Unterricht in der Artillerie, Berlin 1911. [7] N. Sabudski, Untersuchungen über die Bewegung der Langgeschosse, Stuttgart 1909.
T. Schwarz.
Lueger-1904: Ballistik [1]
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