Germanisieren

[655] Germanisieren, soviel wie deutsch machen, bezeichnet jede Tätigkeit, wodurch Menschen oder Gegenden dem Deutschtum gewonnen werden, im besonderen aber die kulturelle Eroberung des Landes östlich von Saale und Elbe, das nach der Völkerwanderung slawisch geworden war. Gehen auch die politische Eroberung und die Anfänge der Germanisierung dieser Landesteile bis auf die Gründung der Marken unter Otto I. (s.d.) und die Polenkriege Heinrichs II. (s.d.) zurück, so ist die Hauptarbeit doch erst seit dem 12. Jahrh. auf friedlichem Wege geleistet worden. Der politischen Besitzergreifung von Grenzländern durch Albrecht den Bären (s. Albrecht 6) und Heinrich den Löwen (s.d.) ist die Niederlassung christlicher Priester und deutscher Ansiedler sofort gefolgt. Namentlich die piastischen Herzoge Schlesiens, seit 1163 von Polen fast unabhängig, haben durch Klostergründungen (Leubus entstand noch vor 1175 von Pforta aus) und Heranziehung namentlich flämischer Bauern weite Landstrecken kultiviert, während die vorhandene slawische Bevölkerung die Wald- und Sumpfgebiete nicht zu roden und fruchtbar zu machen verstand. Ähnlich stand es in Pommern, das seit 1181 zum Deutschen Reich gehörte, sowie in Preußen, wo der Deutsche Orden (s.d.) 1230 das Land zu christianisieren und zu germanisieren begann. Auch die Besiedelung Siebenbürgens, die nach 1160 durch Leute namentlich aus der Moselgegend erfolgte, ist ein Teil dieser deutschen Kolonisationsarbeit. Ist in Polen deutsches Wesen fast ausschließlich auf die Städte beschränkt geblieben, die durchaus deutsche Gründungen sind und im nördlichen Teile bis in das 16. Jahrh. ihren Charakter bewahrt haben (das Polnische löst in Krakau 1312 als städtische Geschäftssprache das Deutsche ab, im Norden ist das gleiche zuerst 1551 zu Kolmar der Fall), so hat sich in den andern Slawenländern der deutsche Einfluß gleichmäßig geltend gemacht und in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Germanisierung der vorhandenen und Neuanlage vieler andern städtischer und dörflicher Wohnplätze geführt: das Magdeburgische Recht gilt in den Städten, nach fränkischen und flämischen Hufen wird das Ackerland der Dorfflur verteilt. Der Fürst oder das Kloster, das auf dem ihm verliehenen wilden Grund Landanbau sehen wollte, trat in der Regel mit einem Unternehmer (locator) in Verbindung, der irgendwo in Westdeutschland eine Schar Auswanderer sammelte, diese nach dem ihm angewiesenen Landgebiet führte und mit ihnen zur Urbarmachung des Bodens[655] und der Anlage eines Dorfes schritt, dessen Erbschulze er häufig ward. Die Hufen, die den einzelnen Familien zufielen, wurden zu einem freien Erbzinsrecht besessen, so daß die Ansiedler vom Landesfürsten oder Kloster nicht als Hörige persönlich abhängig waren, sondern ihm nur eine bescheidene Abgabe zu entrichten hatten. Doch sind im Laufe des 13. Jahrh. mit zunehmendem Landausbau die Ansiedelungsbedingungen immer weniger verlockend geworden. Ganz ähnlich dem bei Dorfgründungen beobachteten Vorgange wurde bei Stadtgründungen verfahren; hier wurde der Unternehmer vielfach zum Stadtvogt. Abgeschlossen war die Kolonisation wesentlich um 1400; räumlich fand das kolonisierte Gebiet in Pommern und Schlesien sein Ende etwa an der spätern Reichsgrenze; im Ordensland trat nach dem Siege der Polen bei Tannenberg (1410) ein Rückschlag ein. Erst im 16. Jahrh. wurde die Kolonisation wieder teilweise aufgenommen: im Herzogtum Preußen finden sich damals neue niederländische Ansiedler ein, und um ihres Glaubens willen Vertriebene haben seitdem bis zu den Salzburgern 1732 ostdeutsches Land neu kolonisieren helfen. Friedrich d. Gr. rief in den 1772 neuerworbenen vormals polnischen Landesteilen viele deutsche Ansiedelungen ins Leben, und in neuester Zeit verfolgt die Ansiedelungskommission (s. Ansiedelung und Innere Kolonisation) dieselben Ziele. – Die Ausdehnung des deutschen Volkstums östlich von der Elbe ist eine der wichtigsten Tatsachen der deutschen Geschichte; trotzdem ist sie noch nirgends umfassend einheitlich dargestellt worden. Über die erste Besiedelungszeit bis 1300 unterrichtet am besten Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 3 (3. Aufl., Berl. 1902). Vgl. Tzschoppe und Stenzel, Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Rechte in Schlesien und in der Oberlausitz (Hamb. 1832); Kötzschke, Das Unternehmertum in der ostdeutschen Kolonisation des Mittelalters (Leipz. 1894); Thoma, Die kolonisatorische Tätigkeit des Klosters Leubus im 12. und 13. Jahrhundert (das. 1894); Winter, Die Zisterzienser des nordöstlichen Deutschlands (Gotha 1868–71, 3 Bde.); Beheim-Schwarzbach, Die Besiedlung von Ostdeutschland (Berl. 1882), Friedrich d. Gr. als Gründer deutscher Kolonien in den 1772 neu erworbenen Landen (das. 1864) und Hohenzollernsche Kolonisationen (Leipz. 1874); Borchgrave, Histoire des colonies belges qui s'établirenten Allemagne pendant le XII. et XIII. siècle (Brüssel 1865); Rudolph, Die Niederländischen Kolonien der Altmark im 12. Jahrhundert (Berl. 1889); Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Leipz. 1893).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 655-656.
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