Glosse

[47] Glosse (griech., »Zunge«), Mundart, Dialekt; dann Bezeichnung für Ausdrücke, die einer besondern Mundart angehörten, Provinzialismen, veraltete und daher leicht unverständliche und einer Erklärung bedürftige Wörter, fremdländische Ausdrücke etc.; später endlich Bezeichnung der Erklärung solcher Ausdrücke. Besonders in der alexandrinisch-römischen Zeit beschäftigten sich viele Gelehrte mit der Abfassung von Verzeichnissen solcher veralteten Redensarten oder Glossen (Glossarien), welche die Lektüre der Schriftstellertexte erleichtern sollten. Die Gelehrten, die sich damit befaßten, hießen Glossographen. Der Ausdruck Glossēm (Glossēma) für G. wurde erst in der spätern Zeit gebräuchlich. Dieser Glossarienliteratur gehören die größern lexikographischen Sammelwerke eines Hesychios, Suidas, Pollux u.a. an. Auch die Römer verfaßten in späterer Zeit glossographische Werke, die für die Kenntnis der ältesten Latinität und der Volkssprache (des Vulgärlateins) von Wichtigkeit sind. Eine gründliche Bearbeitung und Sichtung der Glossen ist erst in neuerer Zeit durchgeführt worden; so die der lateinischen Glossen von Löwe und Goetz (»Corpus glossariorum latinorum«. Leipz. 1888–1901, 7 Bde.) und der althochdeutschen von Steinmeyer und Sievers (Berl. 1879–1900, 4 Bde.). – Auch in der Geschichte des Bibeltextes begegnet uns der Ausdruck G. in verschiedenem Sinne. Randglossen kamen bei der Bibel schon sehr früh und um so mehr in Anwendung, als dies Buch häufiger als jedes andre in die Hände solcher Leser kam, denen zahlreiche Ausdrücke und ganze Stellen, als einer fremden Redeweise und einem fernen geschichtlichen oder religiösen Horizont angehörig, unverständlich waren. Weiteres s. Exegetische Sammlungen. – In der Poetik versteht man unter G. eine eigne Art zierlicher Gedichte, welche A. W. und Fr. v. Schlegel aus der spanischen Poesie in die deutsche einführten (auch Variationen genannt). Ein solches Gedicht besteht aus vier Dezimen (s. d.), deren letzte Zeilen zusammengenommen eine gereimte Strophe ausmachen; diese, das Thema genannt, wird meist dem Ganzen vorangestellt. – In der Rechtswissenschaft nennt man G. die Erläuterung zu dem Texte der Justinianischen Rechtsbücher (s. Corpus juris) durch kurze sachliche und sprachliche Anmerkungen, welche die Rechtslehrer an der mittelalterlichen Rechtsschule zu Bologna teils mündlich in ihren Vorlesungen, teils schriftlich dem Text ihres Exemplars beifügten. Ursprünglich waren diese so kurz, daß man sie in den Text unter die betreffenden Worte schrieb (glossae interlineares); bald aber wurden sie ausführlicher und an den Rand gesetzt (g. marginales). Bildeten die Glossen der Juristen eine fortlaufende Erläuterung des Textes, so nannte man sie Apparatus. Von diesen Glossen erhielten später die Juristen, welche Justinians Rechtsbücher auf solche Weise erläuterten, den Namen Glossatoren. Die berühmtesten waren Azo (gest. 1220) und Accursius (gest. um 1260). Accursius unternahm es, aus allen vorhandenen Glossen das Beste zu exzerpieren, um aus diesen Exzerpten eine fortlaufende G. zu den sämtlichen Rechtsbüchern Justinians zu bilden, und fand so vielen Beifall, daß sein Werk in den Gerichten fast gesetzliches Ansehen erhielt. Jetzt versteht man daher unter der G. schlechthin die des Accursius und nennt sie zum Unterschied von den größtenteils ungedruckten frühern Glossen einzelner Juristen Glossa ordinaria. Über die Malbergischen Glossen s. Salisches Gesetz. – In der Umgangssprache sind Glossen soviel wie spöttische, tadelnde Bemerkungen (daher Glossen machen).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 47.
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