[176] Gottfried von Straßburg, deutscher Dichter des Mittelalters, der glänzendste Stilist unter den höfischen Epikern, lebte am Ende des 12. Jahrh. und starb zwischen 1210 und 1220, war somit Zeitgenosse Hartmanns von Aue, Wolframs von Eschenbach und Walters von der Vogelweide. Er war wahrscheinlich bürgerlichen Standes; wenn er stets »meister« und nie »her« genannt wird, so ist damit freilich nur auf die städtische Herkunft Gottfrieds hingewiesen. Durch gelehrte Bildung seine dichtenden Zeitgenossen fast alle überragend, verfaßte er um 1210 eine größere epische Dichtung: »Tristan und Isolde«. Sie zu vollenden, war ihm nicht beschieden. Der Stoff seines Epos ist aus Erzählungen mannigfaltigen Ursprungs zusammengewachsen und hat seine Ausbildung durch französische Volksdichter in der ersten Hälfte des 12. Jahrh. erlangt (vgl. Golther, Die Sage von Tristan und Isolde, Münch. 1887); er wurde bereits im 12. Jahrh. in weniger kunstvoller Weise von Eilhart von Oberge (s. d.) bearbeitet, wie die Tristansage früh auch schon im Englischen, Spanischen, Dänischen, Norwegischen, Slawischen (Böhmischen) und selbst im Mittelgriechischen dichterische Gestaltung gewann. G. hat als Quelle für sein Epos ein Werk des französischen Trouvere Thomas benutzt, das uns aber nur in Bruchstücken erhalten ist, die an einem kleinen Stück eine unmittelbare Vergleichung ermöglichen (»Le roman de Tristan par Thomas«, hrsg. von Bédier, Par. 1902, Bd. 1). Einigermaßen ersetzt wird diese Quelle durch das Vorhandensein einer (leider kürzenden) nordischen Prosaübersetzung: »Tristrams Saga ok Isondar« (hrsg. von Kölbing, Heilbr. 1878). Der Vergleich zeigt, daß die meisten Züge der Handlung schon dem Original angehören. Der Gang der Erzählung in »Tristan und Isolde« ist im wesentlichen folgender: Tristan, der Sohn Riwalins von Parmenien und Blancheflours, wird nach dem frühen Tode seiner Eltern durch den treuen Marschall seines Vaters, Rual, erzogen und kommt nach mannigfachen Abenteuern zu seinem Oheim, König Marke von Cornwall. Dieser sendet Tristan aus, für ihn um Isolde, die schöne Königstochter in Irland, zu werben. Isolde, welche die Werbung annimmt, geht mit Tristan zu Schiff, und eine der Jungfrauen in ihrem Gefolge erhält von der Königin heimlich einen Minnetrank, den sie Isolde und ihrem Gemahl bei der Hochzeit zu trinken geben soll, um beide mit unwandelbarer Treue aneinander zu ketten. Es ereignet sich aber das Unglück, daß Tristan und Isolde auf der Überfahrt den Zaubertrank, ohne von dessen Wirkung etwas zu wissen, trinken, worauf ihre Herzen von unwiderstehlicher Liebe zueinander ergriffen werden. Isolde wird die Gemahlin Markes, den nun das in allen Künsten der Liebesklugheit meisterhaft gewandte Paar fort und fort betrügt. Nach einer langen Reihe solcher Abenteuer endlich von Marke ertappt, zieht Tristan nach der Normandie, wo ihn die Liebe einer andern Isolde (Isolde Weißhand) fesselt, ohne daß er doch die alte Liebe zu Markes Gattin (der blonden Isolde) vergessen könnte. Mit der Schilderung dieses Zwiespalts in Tristans Seele bricht Gottfrieds Gedicht ab. Die starken sittlichen und ästhetischen Mängel seines Stoffes hat G. nicht überwunden, ja nicht einmal gefühlt. Aber dessen Grundmotiv, die allbezwingende Gewalt der Minne, hat er mit einer Glut und Innigkeit erfaßt und mit einer Kunst der Darstellung durchgeführt wie kein andrer Dichter des Mittelalters. Der Stil des höfischen Epos mit seinen mannigfachen rhetorischen Mitteln hat bei ihm die zierlichste Ausbildung, Vers und Reim haben den gleichmäßigsten Fluß und Wohllaut erreicht. Doch läßt er sich auch schon zu müßiger Tändelei mit Worten und Reimen verleiten. Ein feinsinniger Beurteiler der dichterischen Eigenart seiner Zeitgenossen, weiß er doch die gedankenschwerere Kunst Wolframs von Eschenbach nicht zu würdigen und befehdet sie[176] aus das heftigste. Namentlich auf die alemannischen Dichter gewann Gottfrieds Kunststil einen weitreichenden Einfluß. Wir besitzen von G. auch einige lyrische Gedichte; doch ist der umfangreiche, schwungvolle und reich mit Redeschmuck ausgezierte »Lobgesang auf die Jungfrau Maria« (hrsg. von v. d. Hagen in dessen Sammlung der »Minnesinger« und in Haupts »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd 4; vgl. auch Watterich, G. von Straßburg, ein Sänger der Gottesminne, Leipz. 1858), der früher dem Dichter zugeschrieben wurde, nicht von ihm, wie Franz Pfeiffer (»Germania«, Bd. 3) schlagend nachgewiesen hat An der Fortsetzung von »Tristan und Isolde« haben sich bald nach Abfassung des Gedichts zwei Poeten versucht: plump und trocken Ulrich von Türheim (s. d.), mehr dem Stil Gottfrieds sich nähernd, gewandt und anmutig Heinrich von Freiberg (s. d.), beide aber nach andrer Quelle als der von G. benutzten. Die älteste Ausgabe von »Tristan und Isolde« findet sich im 2. Band von Myllers »Sammlung altdeutscher Gedichte«; andre Ausgaben besorgten Fr. Heinrich v. d. Hagen (mit beiden Fortsetzungen, den Leiedern etc., Bresl. 1823), E. v. Groote (mit der Fortsetzung Heinrichs von Freiberg, Berl. 1821), Maßmann (mit Ulrich, Leipz. 1843); Ausgaben mit Erläuterungen lieferten R. Bechstein (3. Aufl., das. 189091, 2 Bde.) und W. Golther für Kürschners »Deutsche Nationalliteratur« (Stuttg. 1889). Übersetzungen von Gottfrieds Gedicht haben wir von Herm. Kurz (Stuttg. 1844, mit selbständigem Schluß; 3. Aufl. 1877), Simrock (Leipz. 1855,2., ebenfalls mit Fortsetzung und Schluß versehene Auflage. das. 1875) und (die weitaus beste) von Wilh. Hertz (3. Ausg., Stuttg. 1901), mit einem Schluß nach den Bruchstücken des Trouvere Thomas. K. Immermanns mehr selbständige Behandlung des Stoffes ist unvollendet geblieben. R. Wagner hat die Sage zu einem musikalischen Drama verarbeitet. Vgl. R. Bechstein, Tristan und Isolt in deutschen Dichtungen der Neuzeit (Leipz. 1877).