Ursache

[966] Ursache heißt etwas, insofern dadurch das Dasein oder die Entstehung von etwas anderm, der Wirkung, bestimmt gedacht wird. Der Begriff der U., einer der wichtigsten Grundbegriffe (Kategorien) des Denkens, hat im Zusammenhange mit der fortschreitenden Entwickelung der Philosophie und der Realwissenschaften mannigfache Umbildungen erfahren. Ursprünglich ging er wohl hervor aus der anthropomorphistischen Übertragung der Vorstellung des Tätigseins, die unsre eignen willkürlichen Handlungen begleitet, auf die Dinge außer uns. Dieser substanzielle Begriff der U., nach dem U. immer ein (wirkendes) Ding ist, beherrscht jetzt noch den gewöhnlichen Sprachgebrauch und bildet die Grundlage für den Begriff der Kraft als der Fähigkeit eines Dinges, unter bestimmten Umständen durch sein Wirken bestimmte Veränderungen zu veranlassen. Da jedoch im gegebenen Fall zum Zustandekommen einer Wirkung das bloße Vorhandensein eines wirkungsfähigen Agens nicht ausreicht, sondern erforderlich ist, daß es aus dem Zustande der Ruhe in den der Tätigkeit übergehe, also selbst eine Veränderung erfahre, so hat sich allmählich unter dem Einfluß des philosophischen Phänomenalismus (Hume, Kant, Schopenhauer, Mill) und der naturwissenschaftlichen Empirie die Gewohnheit herausgebildet, diese dem Eintritt der Wirkung vorhergehenden Veränderungen als das Wesentliche zu betrachten und mit dem Worte U. zu bezeichnen (aktueller Begriff der U.). Das Wesen des Zusammenhanges zwischen U. und Wirkung, des Kausalnexus den auf dem erstern Standpunkte der Begriff der Tätigkeit, des wirksamen Einflusses verständlich machen soll, wird auf dem zweiten mit Absicht unbestimmt gelassen, da nach den scharfsinnigen Erörterungen Humes und Kants die Möglichkeit desselben durch den bloßen Verstand überhaupt nicht eingesehen werden kann, wir vielmehr lediglich auf die Erfahrung angewiesen sind, die uns zeigt, daß die Erscheinungen von Ursachen abhängen, nicht aber, wie dies geschieht. Neuere Denker (Mach, Avenarius, Ostwald) haben deshalb den Begriffen der Ursache und des Wirkens geradezu jeden Wert abgesprochen und die Aufgabe der Wissenschaft auf die Beschreibung der Vorgänge zurückgeführt. In der Tat erkennen wir die U. einer Erscheinung nur daran, daß sie der Wirkung mit einer gewissen Regelmäßigkeit vorangeht, bez. daß die letztere in regelmäßiger Weise auf sie folgt, wobei freilich noch zu untersuchen ist, ob die aufeinanderfolgenden Erscheinungen nicht (wie z. B. Tag und Nacht) Wirkungen einer dritten U. (der Umdrehung der Erde) sind. U. und Wirkung verhalten sich also wie Bedingung (s. d.) und Bedingtes, und demgemäß wird verfahren, um auf dem Wege der Induktion (s. d.) unter der Gesamtheit der jeweilig in Betracht kommenden Umstände die U. einer bestimmten Erscheinung zu ermitteln. Man pflegt aber oft noch zwischen der U. und den Bedingungen im engern Sinne zu unterscheiden, indem man z. B. die Infektion mit einem Krankheitsstoff als U., die seiner Entwickelung günstige Beschaffenheit des Körpers als Bedingung der Erkrankung bezeichnet. Sind (z. B. bei einer Explosion) die im voraus gegebenen Umstände (der Zündstoff) die Hauptsache, so heißt die hinzukommende U. (der zündende Funke) die Veranlassung.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 966.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: