Variationsrechnung

[1010] Variationsrechnung, das Aufsuchen derjenigen unter allen möglichen Funktionen, für die ein gegebener analytischer Ausdruck (gewöhnlich ein Integral) einen möglichst großen oder möglichst kleinen Wert erhält, also ein Maximum (s. d.) oder Minimum wird. Hängen die betreffenden Funktionen nur von einer Veränderlichen ab, so kann man die Aufgabe auch so ausdrücken: Unter allen möglichen Kurven die aufzusuchen, die eine gewisse Eigenschaft in möglichst großem oder möglichst geringem Maße besitzen. So hat z. B. unter allen Kurven, die man zwischen zwei Punkten einer Ebene ziehen kann, die gerade Linie die kürzeste Länge; unter allen geschlossenen (in sich zurücklaufenden) ebenen Kurven, deren Umfang eine gegebene Länge besitzt, schließt der Kreis den größten Flächeninhalt ein, etc. Das Verfahren der V. besteht darin, daß man annimmt, es gebe eine Kurve, die den Anforderungen der Aufgabe genügt; man denkt sich sodann den Verlauf dieser Kurve unendlich wenig geändert (variiert, daher der Name V.) und berechnet die unendlich kleine Änderung (Variation), die der Ausdruck, der ein Maximum oder Minimum werden soll, dabei erleidet; indem man diese Änderung gleich Null setzt, erhält man gewisse Differentialgleichungen, denen die gesuchte Kurve genügen muß. Die Geschichte der V. beginnt mit 1696, wo Johann Bernoulli die Aufgabe stellte, die Brachistochrone zu finden, d. h. die Kurve, auf der ein schwerer Punkt herabfallen muß, um in möglichst kurzer Zeit von einem Punkte zu einem tiefer gelegenen zu gelangen. Bald darauf fügte Jakob Bernoulli das isoperimetrische Problem (s. Isoperimetrisch) hinzu. Euler zeigte zuerst, wie man allgemein Aufgaben dieser Art lösen kann, und gab 1744 das erste Lehrbuch der V. heraus: »Methodus inveniendi curvas maximi minimive proprietate gaudentes« (Lausanne). 1762 veröffentlichte Lagrange das Verfahren zur Lösung von Aufgaben der V., das im wesentlichen noch heute benutzt wird. Aus der neuern Zeit sind zu nennen: Jacobi, Weierstraß, Schwarz, A. Mayer und L. Scheeffer. Vgl. Lindelöf und Moigno, »Calcul des variations« (Par. 1861); Kneser, Lehrbuch der V. (Braunschw. 1900), auch die von Stäckel herausgegebenen Abhandlungen zur V. in »Ostwalds Klassikern« (Heft 46 u. 47, Leipz. 1894).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 1010.
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