Zeit [2]

[867] Zeit, das Verhältnis des Nacheinander, das, weil allem Wahrnehmen, Vorstellen und Denken zugrunde liegend, nicht näher definiert werden kann. Insofern die zeitlichen Bestimmungen nicht die Qualität des Vorgestellten, sondern nur seine Anordnung betreffen, kennzeichnen sie sich, wie die räumlichen, als formale Bestandteile des Vorstellungsinhalts, unterscheiden sich aber von jenen dadurch, daß sie nicht bloß den Objekten der (äußern) Sinneswahrnehmung, sondern auch dem Inhalte der Selbstwahrnehmung anhaften, insofern unser ganzes Seelenleben sich als eine Zeitreihe wechselnder Erlebnisse darstellt. Doch ist es nicht ganz zutreffend, wenn Kant die Z. als die spezifische »Form des innern Sinnes« definierte, da vielmehr alles, was überhaupt als[867] Gegenstand der Erfahrung (innerer oder äußerer) gegeben ist, der Zeitreihe eingeordnet wird. Gemeinsam ist der Z. wie dem Raume die Eigenschaft der Stetigkeit (s. Kontinuität), während aber der Raum eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit darstellt, hat die Z. nur eine Ausdehnung, und man kann sie sich daher durch das Bild einer unbegrenzt verlaufenden Linie veranschaulichen, die sich jedoch von einer Linie im Raume dadurch unterscheidet, daß diese nach Belieben in entgegengesetzter Richtung durchlaufen werden kann, während in der Zeitreihe die Richtung nach vorwärts (Zukunft) und rückwärts (in die Vergangenheit) sich wesentlich unterscheiden. Mit Rücksicht auf die zeitlich geordneten Inhalte sind die subjektive Zeitreihe des unmittelbaren Erlebens und die objektive der äußern Vorgänge zu unterscheiden; während die erstere für jedes Individuum eine andre ist, und innerhalb ihrer die zeitlichen Verhältnisse der einzelnen Erscheinungen nur in sehr unsicherer und schwankender Weise abgeschätzt werden können (vgl. Zeitsinn), hat die objektive Zeitreihe für alle denselben Inhalt, und die strenge Gesetzmäßigkeit und Konstanz der äußern Vorgänge ermöglichen es, Zeitpunkte und Zeitintervalle genau zu bestimmen und zu vergleichen (vgl. Zeitmessung). Sehr schwierig ist die Frage nach der metaphysischen Bedeutung der Z. Während nach Kant die (äußern wie innern) Vorgänge nur in unsrer Auffassung, nicht aber an sich selbst eine Zeitreihe bilden (transzendentale Idealität der Z.), schreiben andre der Z. transzendentale Realität zu, indem sie entweder eine mit unsrer Zeitanschauung wesentlich übereinstimmende transzendente Z. als Vorbedingung alles Seins und Geschehens voraussetzen oder das Nacheinander als die Form betrachten, die das (metaphysische) Aufeinanderwirken der Dinge mit Notwendigkeit annimmt. Über physiologische oder Reaktionszeit s. Reaktion. Vgl. Baumann, Die Lehren von Raum und Z. in der neuern Philosophie (Berl. 1868 bis 1869, 2 Bde.); Döring, Über Z. und Raum (das. 1894); Palagyi, Neue Theorie des Raumes und der Z. (Leipz. 1901).

Die katholische Kirche nennt die Zeiten, in denen sie keine Hochzeiten und lärmenden Vergnügungen gestattet, die Geschlossene Z. (s. d.) und teilt das Kirchenjahr in drei oder zwei heilige Zeiten, die entweder um die drei hohen Feste oder nur um Weihnachten und Ostern liegen. Im letztern Falle dauern sie von Advent bis Epiphanias und von Aschermittwoch bis zum Sonntag nach Ostern. – Über Z. in der Grammatik s. Tempus.

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 867-868.
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