Bonaparte [2]

[287] Bonaparte (Joseph), geb. 1768 zu Ajaccio, ältester Bruder Napoleon B.'s, studirte die Rechte in Pisa, begab sich 1793 zu seiner nach Marseille geflüchteten Familie und heirathete hier 1794 eine reiche Kaufmannstochter, Marie Julie Clary, Stiefschwester der Gemahlin des nachherigen Königs von Schweden, Karl Johann. Nachdem Joseph einige Zeit Secretair des Volksrepräsentanten Salicetti gewesen, wurde er durch denselben Kriegscommissair bei der sogenannten ital. Armee, zu deren Verwaltungschef ihn 1796 Napoleon ernannte. Im nämlichen Jahre noch ging er als Gesandter nach Parma und 1797 nach Rom, von wo er sich aber heimlich entfernte, nachdem bei einem Volksaufstande General Duphot an seiner Seite ermordet worden war, was die franz. Besitznahme des Kirchenstaats zur Folge hatte. Er half hierauf als Mitglied und Secretair des Rathes der Fünfhundert mit seinem Bruder Lucian den 18. Brumaire vorbereiten und wurde von Napoleon mit der Ernennung zum Staatsrathe und Tribun belohnt. Seine als Unterhändler bewiesene Gewandtheit war Ursache, daß ihm der Abschluß eines Friedens- und Handelsvertrags mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1800), des franz. Concordats mit dem heiligen Stuhle (1801), sowie der Frieden von Luneville (1801) und Amiens (1803) anvertraut wurde. Nachdem Napoleon Kaiser geworden, ernannte er Joseph zum Senator, zum Großoffizier und Mitgliede des Rathes der Ehrenlegion, endlich zum Prinzen und Großwahlherrn von Frankreich. Als wegen Verletzung der vertragsmäßigen Neutralität Napoleon im Dec. 1805 von Schönbrunn aus die neapol. Königsfamilie der Regierung für unwürdig erklärt hatte, stellte er Joseph an die Spitze des Heers, das unter ihm von den Marschällen Masséna und Gouvion Saint-Cyr befehligt, Neapel eroberte, worauf ihm ein kais. Decret vom 30. März 1806 die Krone von Neapel und Sicilien verlieh. Unter seiner kurzen Regierung geschah viel zur Verbesserung der Finanzen und des öffentlichen Unterrichts; Klöster wurden eingezogen und die Lehnsverfassung anfgehoben. Hierbei folgte Joseph aber theils nur dem Beispiele und den Anordnungen seines Bruders, theils ließ er seine Minister schalten; denn ungeachtet es ihm weder an Verstand noch an ital. Schlauheit gebrach, war er doch aus eignem Antriebe weniger zu durchgreifenden als zu versöhnenden Maßregeln geneigt. Ebenso wenig Soldat als Heerführer, wurde er aber dennoch von Napoleon 1808 auf den span. Thron berufen, wo er sich erst mit den Waffen befestigen sollte. Am 20. Jul. zog er in Madrid ein, aber die Unterwerfung des für seine Unabhängigkeit hartnäckig kämpfenden Spaniens (s.d.) hätte die Beharrlichkeit und den Geist Napoleon's bedurft, den Joseph's gute Absichten, seine Liebe zur Gerechtigkeit und seine Leutseligkeit nicht ersetzen konnten. Englands Einfluß und Heere machten seine Lage noch schwieriger und 1813 wurde er genöthigt, nach Frankreich zurückzukehren. Als 1814 die Verbündeten gegen Paris vordrangen, ernannte ihn Napoleon zum Generallieutenant des Reichs; allein Joseph war jenen außerordentlichen Umständen nicht gewachsen und verließ Paris, wo der Herzog von Ragusa zurückblieb, dem er die Einwilligung zur Übergabe ertheilte. Nach seines Bruders Abdankung begab er sich mit einem Jahrgelde von 500,000 Francs in die Schweiz, erschien aber 1815 nach Napoleon's Rückkehr wieder in Paris und folgte nach der Schlacht von Waterloo seinem Bruder nach Rochefort, um mit ihm Amerika zu erreichen, schiffte sich aber allein dahin ein, nachdem er vernommen hatte, daß sich Napoleon den Engländern ergeben wolle. Auf einem Landgute in der Nähe von Philadelphia lebte er seitdem als Graf von Survilliers, beschäftigte sich mit der Landwirthschaft und den Wissenschaften und erwarb sich durch Wohlthätigkeit und sein übriges Benehmen die Achtung und Liebe seiner Nachbarn. Im Sept. 1830 protestirte er in einer Adresse an die franz. Deputirtenkammer für seinen Neffen, den Herzog von Reichstadt, gegen die Thronbesteigung Ludwig Philipp's, Herzogs von Orleans und hält sich seit 1832 in London auf. Er hat viel Ähnlichkeit mit seinem Bruder Napoleon, nur ist der Ausdruck seiner Züge wohlwollender; am franz. Hofe erhielt er wegen seiner Neigung zum behaglichen Lebensgenuß den Spitznamen des Philosophen. Von seiner häufig durch ihn vernachlässigten Gemahlin hat er zwei Töchter, von denen die älteste, Zenaide, geb. 1801, mit dem Fürsten Musignano, einem Sohne Lucian B.'s; die jüngere, Charlotte, geb. 1802, mit Napoleon Ludwig, einem Sohne Ludwig B.'s, Grafen von St.-Leu, vermählt worden ist.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 287.
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