[229] Mysticismus (der) ist die Religion des verirrten religiösen Gefühls, durch die der Mensch in eine sinnlich wahrnehmbare Verbindung mit Gott zu gelangen vermeint. Anstatt nämlich den lebendigen Glauben an Gott zur Quelle des religiös-sittlichen Lebens zu machen, geben sich Anhänger derselben oder Mystiker, uneingedenk des menschlichen Abstandes von Gott, der Täuschung hin, daß die aus dem lebendigen Glauben an Gott hervorgehende Gemeinschaft mit ihm eine wirkliche und in dem sinnlich empfindbaren Verkehr des menschlichen Geistes mit Gott, in der endlichen Auflösung desselben im göttlichen Geiste, das Grundwesen der Religion enthalten sei. Von dem Mysticismus ist die Mystik zu unterscheiden, die als geheimnißvolles, unerklärliches Gefühl, das den Menschen mit Gott verbindet, von dem Wesen der Religion unzertrennlich ist. Die höchsten Grade des Mysticismus sind die Schwärmerei, wo der Mystiker in den Himmel und die selige Nähe Gottes entrückt wird, und der Fanatismus (s.d.), wo er seinem Irrthum leidenschaftlich, ja gewaltsam Anerkennung zu verschaffen sucht. Als eine Verirrung des religiösen Gefühls hat der Mysticismus unter den Bekennern fast aller Religionen zahlreiche Anhänger gefunden und die des Brahma und Fo, sowie die mosaische, christliche, mohammedanische, haben mystische Sekten. Im Christenthume fand der Mysticismus Eingang, seitdem es mit Origenes gebräuchlich wurde, manchen Stellen der h. Schrift eine mystische, auf eine unmittelbare Verbindung Gottes mit dem Menschen sich beziehende Deutung zu geben und die Lehren heidnischer Philosophen von dem Ausfluß des menschlichen Geistes aus Gott und der Wiedervereinigung mit ihm durch eine beschauliche und die Sinnlichkeit ertödtende Lebensweise, von den Christen verschieden angenommen und auf das Leben angewandt wurden. Die im 5. Jahrh. unter dem Namen des h. Dionysius (s.d.) verbreiteten Schriften wurden eine reiche Quelle des Mysticismus für das Mittelalter; doch bildete er hier einen heilsamen Gegensatz gegen die Scholastik [229] (s.d.), deren blos verständige Behandlungsweise der Religion derselben fast allen Einfluß auf das Herz und Gemüth des Menschen raubte, welchem Irrthum die Mystiker Bernhard v. Clairvaux, Johann Tauler, Thomas a Kempis, nicht ohne Erfolg und ohne Verdienst für ihre Zeit, freilich nur einen andern entgegensetzten. Obwol weder die katholische noch die evangelische Kirche den Mysticismus öffentlich anerkannten und letztere die mystischen Sekten der Wiedertäufer, Methodisten und Quäker aus ihrer Mitte ausschied, so hat er doch immer in beiden Kirchen fortbestanden und seinen Einfluß sowol auf das religiös sittliche Leben als auf die Wissenschaft geltend gemacht. Es fehlte nie an Menschen, die, im religiösen Bewußtsein irre geleitet, das dumpfe Hinbrüten in der Einsamkeit dem lebendigen Verkehr mit Menschen vorzogen, die den Schatten einer erträumten Geisterwelt nachjagten, im himmlischen Entzücken mit der Sünde buhlten und Einbildungen und Träume für gründliches Wissen ausgaben. Überall, wo sich der Mysticismus und wie er sich zeigt, erscheint er als ein Übel, als ein krankhafter Auswuchs des wahren religiösen Lebens, der nur, da er an der Religion das wärmste Interesse nimmt, durch das noch weit größere Übel des gänzlichen Verfalls der Religion und Sittlichkeit erträglich gemacht werden und in dieser Beziehung für manche Zeiten fast wünschenswerth sein kann. Tiefes religiöses Gefühl, verbunden mit einer lebendigen Einbildungskraft, sind vorzügliche, aber bei einem gänzlich vernachlässigten oder nur zu Gunsten des Irrthums gebrauchten Verstande sehr getrübte Eigenschaften des Mystikers. Seine Sprache ist darum lebendig und bilderreich, aber verworren und verstößt gänzlich gegen einen geläuterten Geschmack, da er selbst die Ausdrücke für geschlechtliche Verhältnisse auf sein Verhältniß zu Gott überträgt. Bei der Innerlichkeit seines Lebens und der oft stillen und in sich gekehrten Gemüthsart, die ihm eigen ist, meidet er absichtlich den Umgang aller ihm nicht Gleichgesinnter, wodurch die Mystiker sich auch den Spottnamen der »Stillen im Lande«, Ducker und Mucker zugezogen haben, und Kunst und Wissenschaft haben nur soweit Werth für ihn, als sie sich für seinen Irrthum ausbeuten lassen, der nicht selten zu unzüchtigen und verbrecherischen Dingen verleitet.