[587] Protestanten wurde der gemeinsame Name der evangelischen Glaubensgenossen zufolge der von den evangelischen Ständen des deutschen Reichs 1599 auf dem Reichstage zu Speier eingelegten Protestation gegen dessen Beschlüsse: laß die evangelischen Fürsten und andere Reichsstände zwar die neue Lehre vorläufig behalten, aber darin nicht weiter gehen und die Messe und andere Gebräuche nirgend mehr abschaffen sollten, bis zu einer künftigen Kirchenversammlung. Die 1517 begonnene Reformation (s.d.) hatte nämlich noch immer kein gesetzliches Dasein gewonnen, vielmehr bestand das vom Kaiser Karl V. auf dem Reichstage zu Worms 1520 erlassene sogenannte wormser Edict, in welchem über Luther und seine Anhänger die Reichsacht ausgesprochen worden war, noch in voller Kraft, und des Kaisers Ungnade und die Strafe des Gesetzes drohte allen ihren Anhängern. Allein die Liebe zur Wahrheit wirkte mächtiger als des Kaisers Strafgebot und der Kaiser selbst war dasselbe zu vollziehen durch Kriege mit Frankreich und die misliche Lage des von den Türken bedroheten Reichs verhindert, gegen die er auch der Hülfe der Evangelischen bedurfte. So hatte denn die Reformation einen schnellen Fortgang gehabt und der letzte Reichstag zu Speier (1526) war mit dem für die Evangelischen günstigen Reichstagsabschiede entlassen worden, daß bis zur Veranstalung einer allgemeinen Kirchenversammlung ein Jeder in Angelegenheiten der Religion sich so verhalten möchte, wie er es vor Gott und dem Kaiser verantworten zu können glaubte. Während nun die Evangelischen dies [587] zu ihrem Vortheil nützten und in dem Reichsabschiede sogar die Grundlage eines Vergleichs und einer gewissermaßen zugestandenen Religionsfreiheit zu finden glaubten, war man auf Seiten ihres Gegentheils bemüht, ihnen den vollen Genuß Dessen, was jener Reichstagsabschied zu enthalten schien, zu verkümmern und die Freiheit, die man darauf gegründet hatte, wieder zu beschränken. Dies sollte auf dem Reichstage von 1529 geschehen, nachdem der Kaiser selbst, nach glücklicher Beendigung des ital. und zum großen Theil auch des franz. Kriegs, für die deutsche Religionssache freie Hand gewonnen hatte, und bei der Mehrheit der Stimmen auf Seiten der katholischen Reichsstände fiel auch der Beschluß des Reichstagsabschiedes ganz so aus, wie er von Valladolid in Spanien aus insgeheim verordnet hatte. Der Reformation wäre dadurch ein unübersteigliches Hinderniß entgegengesetzt und das Bestehen der alten Religionsverfassung und ihrer Misbräuche gesichert worden. Daher legten die evangelischen Stände, an ihrer Spitze Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, als Gegenvorstellungen nichts fruchteten, Protestation ein (19. Apr.), indem sie im förmlichen Widerspruch gegen den Reichsabschied, sich selbst ihre Überzeugung und Gerechtsame in der heiligen Sache der Reformation verwahrten und dabei feierlichst erklärten: daß die Evangelischen in Sachen der Religion, über welche keine weltliche Gewalt, sondern nur Gott etwas verfügen und anordnen könne, den mehren Stimmen des Reichstags unmöglich gehorchen könnten; daher sie, im Fall diese ihre Beschwerde keine Statt finden sollte, hiermit öffentlich vor Gott, der alle Herzen erforsche und recht richten werde, wie auch vor allen Menschen und Creaturen protestirten, daß sie in alle Handlungen, die wider den speierschen Reichsabschied vom I. 1526 vorgenommen und beschlossen worden, nicht willigten, sondern Alles für nichtig und unbündig hielten. Den 25. Apr. appellirten sie auch noch an den Kaiser, an ein allgemeines oder deutsches Concil und an jeden unparteiischen christlichen Richter, für sich, ihre Unterthanen und Alle, die jetzt oder künftig an das Wort Gottes glauben würden. Die Benennung Protestantismus rührt daher von der Art her, wie damals der evangelische Glaube gegen äußere Eingriffe verwahrt wurde. Da aber hieraus grade eine wesentliche Sekte der neuen evangelischen Lehre, wie sich dieselbe im Laufe der Reformation entwickelte und feststellte, bezeichnet wurde, so erhielt das Wort protestantisch die gleiche Bedeutung von evangelisch-protestantisch und wurde der gemeinsame Name der unter sich selbst getheilten Bekenner des evangelischen Glaubens. Der Protestantismus nun in seinem Entstehen und seiner fortdauernden Entwickelung war ein Widerstreben, nicht gegen den Katholicismus, der in seiner reinen und wahren Gestalt, nämlich als echtes Christenthum auch von dem Protestantismus erstrebt wird, sondern gegen alles Menschliche, das im Laufe der Jahrhunderte die Wahrheit des Evangeliums getrübt und in der Zuversicht der Seligkeit die Seelen betrogen hatte, ein Kampf und Widerspruch gegen den fälschlich geheiligten Wahn der Menschenlehren, gegen die frommen Sünden des Aberglaubens, gegen die Tyrannei des Papstthums, der die Reformation das Ziel setzte. Aber Kampf und Widerspruch ist nicht eine nothwendige Seite des Protestantismus, die im höhern Sinne des Wortes ihm selbst nicht einmal wesentlich ist, sondern der Zeit gehört, die den Kampf will und die ewige Wahrheit in ihrem Siegeslaufe aufhält. Er ist der auf den freien Gebrauch der heiligen Schrift, als des alleinigen Wortes Gottes gegründete Glaube an Christus, den Heiland und Seligmacher der sündigen Menschheit, und das unsichtbare Oberhaupt der durch diesen Glauben wahrhaft gebesserten und geheiligten Christengemeinschaft. Diese eigenthümlichen Lehren und Grundsätze des Protestantismus, die denselben zu einer besondern Form des christlichen Glaubens und Lebens im Gegensatz des Katholicismus (s.d.) in seiner christlich-menschlichen Gestalt machen, sind enthalten und ausgesprochen in den zu verschiedenen Zeiten von ihm aufgestellten Bekenntnißschriften der augsburg. Confession, deren Apologie, des großen und kleinen Katechismus Luther's, der schmalkald. Artikel und der Concordienformel, welche Bekenntnißschriften man unter dem Namen der symbolischen Bücher begreift, deren Inhalt aber ihm nicht als bindende Regeln der unumstößlichen und ewig bleibenden, sondern als zeitlicher Ausdruck der im fortgesetzten Streben zu erforschenden, christlichen Wahrheit gilt. Die wesentlichen Merkmale des Protestantismus zusammengefaßt, durch die er sich insbesondere vom Katholicismus unterscheidet, so sieht derselbe als die alleinige Erkenntnißquelle des Christenthums die heilige Schrift an, der er allein das Ansehen der höhern göttlichen Offenbarung (s.d.) und damit das Ansehen der entscheidenden Richterin in Glaubenssachen beimißt. Ihr Inhalt selbst ist unbezweifelt, wenn die klaren, unumwundenen Aussprüche zur Erklärung der dunkeln und weniger verständlichen benutzt werden, und dazu bedarf es keines unbedingten Auslegungstribunals, wie in der katholischen Kirche, wo nur die vom h. Geiste beseelten Bischöfe die heilige Schrift richtig auslegen können, sondern ihr Gebrauch ist frei und im freien Gebrauch derselben das richtige Verständniß ihres göttlichen Inhalts. Alle christliche Wahrheit nun, die nicht aus dieser reinen und lautern Quelle fließt, kann nicht als solche gelten, sondern ist als Menschensatzung in der religiös-sittlichen Beseligung des Menschen gewicht- und bedeutungslos. Wer nun an der Hand der heiligen Schrift nach Erkenntniß der christlichen Wahrheit strebt, der findet sie begriffen in Christus und dem Glauben an ihn, als seinen Heiland und Seligmacher. Denn wie dieser Glaube des tiefen sittlichen Ernstes, der die bodenlose Tiefe menschlicher Sündhaftigkeit erkennt, nicht ermangelt, so wirkt er auch die wahre Reue der Besserung und wird in der seligen Zuversicht, daß Gott um Christi willen die Sünden vergiebt, das herrliche Leben der Kinder Gottes, die ihn lieben, wie er uns in Christus liebte. Der Protestantismus macht also das göttliche Wohlgefallen und der Seelen Seligkeit von dem Glauben an Christus und der aus demselben hervorgehenden sittlichen Lebensrichtung abhängig, kennt aber nicht die sogenannten guten Werke und ihre Verdienstlichkeit, noch die höhern sittlichen Verpflichtungen des Mönchslebens, der freiwilligen Armuth und Keuschheit und ihren gotteswürdigern Beifall, noch die Verehrung vollkommener und heiliger Menschen, noch den überschwenglichen Schatz eines Verdienstes Christi und der Heiligen, aus welchem im Leben, wie nach dem Tode im Fegefeuer (s.d.) die fehlende und mangelnde Tugend der Gläubigen ergänzt werden könnte. Ebenso ist in seinen gottesdienstlichen Einrichtungen [588] der Protestantismus von dem Katholicismus wesentlich unterschieden. Denn während jener das lebendige Wort der Predigt (s.d.) als den Mittelpunkt der öffentlichen Gottesverehrung betrachtet und in der geistigen Erweckung der Andacht von allem falschen Vertrauen auf blos äußerliche Geberden sich entbindet, und nur denjenigen Gebräuchen, die dem Worte Christi entsprechen und ein Ausdruck des christlichen Glaubens und der Überzeugung der Schriftlehre sind, der Taufe und dem Abendmahl, eine wirksame Stellung inmitten der gottesdienstlichen Handlungen anweist, macht dieser in eben dem Maße die Wirkungen des gemeinschaftlichen Gottesdienstes von dem Meßopfer (s.d.) abhängig und sacht durch die Gegenwart des Allerheiligsten, selbst des sichtbaren Leibes Christi, durch die heilige Person der Priester, durch heilige Gebräuche und Ceremonien und durch der schönen Künste bestechende Mitwirkung die Andacht der Herzen zu entzünden und christliche Gesinnungen, christliches Leben mitzutheilen. Endlich erkennt der Protestantismus die Kirche als die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen und Frommen, die durch Christus gebessert und zum neuen Leben wiedergeboren sind, ein Ideal in den verschiedenen äußerlichen Kirchen je nach dem Maße ihres Glaubens verschieden dargestellt, aber nirgend vollkommen erreicht und immer im Werden begriffen, sodaß die Gläubigen aller Orten in dieser unsichtbaren Kirche verbunden sind. Dagegen der Katholicismus die unter der geistlichen Alleinherrschaft des Papstes und der ihm untergeordneten Bischöfe vereinte Christenheit für die eine wahre und alleinseligmachende Kirche hält, die eine sichtbare Heilsanstalt ist und in welcher von dem Priester das ihm anvertrauete Heil gespendet wird.
So wesentlich verschieden nun auch der Protestantismus von dem Katholicismus ist, so ist er dennoch mit demselben durch das gemeinsame Merkmal des Christlichen verbunden und hat wie er dasselbe Ziel, durch das Christenthum den Menschen zu beseligen, nur daß dieser das Ziel als bereits erreicht, jener erst als im fortgesetzten Streben zu er. reichen vorstellt. Wenn der Protestantismus den Glauben freigibt und Glaubensfreiheit sein eigentliches Leben ist, dagegen der Katholicismus den Glauben überall streng gewahrt und statt des freien Forschens und Selbsterkennens, das willige Gehorchen der Kirchenlehre fodert, so sind hierin ebenso wol die Vorzüge und Schwächen dieses wie jenes enthalten. In der Freiheit gedeiht das Edelste des Menschen, so auch die Frucht des religiösen Lebens; wie sie aber selbst leicht zur Willkür ausartet, so hat sie auch die mannichfachsten Verirrungen auf dem Gebiete der Religion zur Folge und wird als solche entweder ein unfruchtbares Wissen, oder ein geheimnißvolles Träumen, oder ein frommes Thun, oder auch völlige Gleichgültigkeit gegen die Religion und Gottlosigkeit. Der Katholicismus scheint bei dem strengen Gehorsam des Glaubens, den er auflegt und fodert, diesen Verirrungen weniger ausgesetzt, schlägt aber den Geist zu sehr in Fesseln und macht die Religion zu leicht zum Aberglauben oder Frohndienst der Gottheit. Dagegen hat der Protestantismus in seiner Eigenthümlichkeit Großes gewirkt und weithin in allen Zweigen des menschlichen Wissens seine Geistesfreiheit geltend gemacht. Durch dieselbe hat er selbst dem Katholicismus einen Aufschwung gegeben und in ihr hat er die sicherste Bürgschaft, wie der Wahrheit, so des Siegs des Christenthums. Dem Staate an sich und der innern Ruhe und dem Frieden desselben kann nur Vortheil bringen, wenn seine Mitglieder nicht mit blindem Glauben einer kirchlichen Autorität blindlings gehorchen, die außer dem Staate und wol gar über demselben zu stehen sich anmaßt, sondern wenn sie in moralisch religiöser Hinsicht nach immer höherer Bildung streben. Die Geschichte bestätigt das, und die meisten Revolutionen der neuern Zeit sind in katholischen Ländern ausgebrochen und erst durch ihre Rückwirkung wurden in der Regel die Bewegungen in protestantischen Ländern hervorgerufen. Umfassend handeln über den Protestantismus die Schriften: »Betrachtungen über den Protestantismus« (Heidelb. 1826), und »Der Protestantismus in seiner geschichtlichen Begründung, in seinem Einflusse und seinen Hauptlehren« (Stuttg. 1827).
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