Schwindsucht

[140] Schwindsucht im weitern Sinne des Wortes ist die gemeinschaftliche Benennung für alle die Krankheiten, welche durch beständig zunehmende, von innern Ursachen abhängige Abmagerung und Entkräftung des Körpers zum Tode führen. Dieser Begriff umfaßt daher sowol die Abzehrungen, als da sind die Abzehrung (s.d.), Atrophie oder Darrsucht der Kinder und Greise, die sogenannte Nervenschwindsucht, Rückendarre, als auch die verschiedenen Schwindsuchten oder Auszehrungen im engern Sinne. Unter Schwindsucht in diesem, dem gebräuchlichern Sinne versteht man aber jede wesentlich durch Vereiterung oder Verschwärung irgend eines Eingeweides bedingte, ebenfalls mit stets fortschreitender Abnahme an Fleisch und Kräften verbundene [140] Krankheit. Letztere Arten von Schwindsucht unterscheiden sich daher von erstern ganz besonders durch die Erscheinungen von Eiterung in diesem oder jenem Eingeweide, die Wirkungen dieser und das sogenannte Eiterungsfieber. Obschon es nun kein Eingeweide des Körpers gibt, durch dessen Vereiterung nicht Schwindsucht herbeigeführt werden könnte, so sind doch die Lungen, der Kehlkopf und die Luftröhre am häufigsten und vorzugsweise der Sitz derselben. – Die Lungenschwindsucht, Lungensucht, die häufigste von allen Schwindsuchten (theils wegen des zarten und leicht verletzbaren Baues, theils wegen der ununterbrochenen Thätigkeit der Lungen, die dadurch fortwährend der Einwirkung mannichfacher schädlicher und aufregender Einflüsse ausgesetzt werden), zerfällt je nach der Beschaffenheit der ihr zu Grunde liegenden Krankheitszustände in die schleimige, eiterige, knotige und galoppirende. Die sogenannte Schleimschwindsucht der Lungen besteht in einem Verschleimungszustände dieser, der entweder eine Folge allgemeiner Verschleimung oder durch langwierige Katarrhe herbeigeführt sein kann und sowol durch den allzu großen Säfteverlust als auch durch die Störung der den Lungen obliegenden Verrichtung, auch ohne nothwendig in Eiterung überzugehen, früher oder später, in der Regel jedoch sehr langsam zum Tode führt. Diese Art von Schwindsucht erkennt man außer an den Erscheinungen allgemeiner Verschleimung (s.d.) an einem häufigen und anhaltenden, jedoch schmerzlosen Husten mit leicht erfolgendem, reichlichem Auswurfe eines dicken, glasigen Schleimes von weißer, gelblicher, grünlicher oder grauer Färbung und anfänglich gar keinem, später aber salzigem Geschmacke und üblem Geruche, an gleichzeitig stattfindender Engbrüstigkeit, allmälig eintretender Abmagerung und Entkräftung, den Zufällen eines schleichenden Fiebers u.s.w. Sie entsteht unter Einwirkung der nämlichen Ursachen, welche Verschleimung überhaupt bewirken, befällt mehr ältere als jüngere Personen, mehr das weibliche als männliche Geschlecht, kann Jahre lang dauern, in glücklichen, wenn auch seltenen, Fällen noch am ersten mit Genesung enden, nimmt aber meist nach Hinzutritt erschöpfender Nachtschweiße und Durchfälle, sowie wassersüchtiger Erscheinungen einen tödtlichen Ausgang. Die eiterige Lungenschwindsucht entwickelt sich meist aus rasch verlaufenden oder schleichenden Lungenentzündungen, zumal wenn Vernachlässigung dieser von Seiten des Kranken selbst oder des Arztes, jugendliches Alter, der sogenannte schwindsüchtige Körperbau oder Misgestalt des Brustkorbes ihre Entstehung begünstigen. Die Krankheit charakterisirt sich durch einen gewöhnlich in der Tiefe sitzenden, stechenden oder klopfenden, bei manchen Wendungen und Lagen des Körpers besonders empfindlichen, durch das Athemholen, Husten, überhaupt Alles, was die Lungen erschüttert, sich steigernden oder auch erst hervorgerufenen Schmerz, Unmöglichkeit, auf der einen oder andern Seite des Körpers zu liegen, Kurzathmigkeit, anfangs seltenern und trockenern, später häufigern Husten mit eiterigem, zuweilen mit Blut untermischtem, zuletzt jauchigem Auswurfe, die Zufälle des täglich in den Nachmittags- oder Abendstunden sich einstellenden hektischen Fiebers mit weiterhin sich hinzugesellenden, höchst erschöpfenden Nachtschweißen und Durchfällen, bei oft lange Zeit ungestörter Verdauung und ungetrübter Geistesthätigkeit, durch unerschütterliche Hoffnung auf Genesung oft bis zum letzten Augenblicke, Anfälle von Erstickung, wenn ein vielleicht bisher verschlossener Eitersack in den Lungen unter Entleerung einer großen Menge Eiters in die Luftwege plötzlich berstet, und endet ebenfalls mit dem Tode entweder durch Stickfluß oder unter den Erscheinungen gänzlicher Erschöpfung. Jüngere Personen sterben in der Regel früher als ältere. In höchst seltenen Fällen werden Kranke gerettet, zuweilen dadurch am Leben erhalten, daß ein Eitersack, nachdem er sich entleert hat, ausheilt. – Die knotige oder Knoten-Lungenschwindsucht, so genannt, weil sie dadurch entsteht, daß sich in dem Gewebe der Lungen fremdartige Körper von verschiedener Größe und festweicher Beschaffenheit, sogenannte Lungenknoten oder Tuberkeln bilden, welche, je mehr sie sich vervielfachen oder ausbreiten, die Lungen immer untauglicher zu ihrer Verrichtung machen, ist die gefährlichste von allen Arten von Schwindsucht, weil sie in der Regel nicht eher erkannt wird, als bis es für ihre Heilung zu spät ist. Sie pflegt sich zuerst durch ein im Anfange unbedeutendes, mit einer kitzelnden Empfindung verbundenes, kurzes und meist trockenes Hüsteln, das zwar noch schmerzlos ist, jedoch bald durch seine öftere Wiederkehr lästig wird, durch Kurzathmigkeit beim Steigen, sowie bei jeder nur einigermaßen anstrengenden Bewegung, ein Gefühl von Behinderung und Druck beim tiefen Einathmen zu verrathen. Dabei können die Kranken auf beiden Seiten liegen und bleiben auch für gewöhnlich noch frei von Schmerz. Nach und nach wird indeß das Gefühl von Druck in der Brust immer lästiger und artet im weitern Verlaufe der Krankheit in wirklichen Brustschmerz aus; auch der Husten wird schmerzhaft und statt daß er bisher meist trocken war, entleert er nun eiterige, jauchige, mit kleinen, käseartigen Klümpchen vermischte Stoffe; die Kurzathmigkeit steigert sich zu anhaltender Beklemmung. Endlich gesellt sich auch schleichendes Fieber hinzu. So geht es Monate lang unter von Zeit zu Zeit eintretenden Nachlässen und Verschleimungen fort, bis die Krankheit zuletzt völlig zur eiterigen oder geschwürigen Lungenschwindsucht wird, und unter den nämlichen, die allmälige Auflösung verkündenden Erscheinungen wie diese, unter täglich zunehmender Abmagerung, Nachtschweißen und Durchfällen zum Tode führt. Am gewöhnlichsten befällt die knotige Lungenschwindsucht junge Leute von 15–25 Jahren und zwar vorzugsweise solche, die in der Kindheit an der Skrofelsucht litten, aus der sie sich in spätern Jahren, zumal unter Begünstigung einer nicht selten ererbten oder angeborenen Anlage, sehr gern entwickelt. Sie ist leider eine der am häufigsten vorkommenden Arten von Schwindsucht, bei einem gewissen Grade von Ausbildung unheilbar, meist jedoch von sehr langsamem Verlaufe und nur bei großer Aufmerksamkeit und Sorgfalt in ihrer Entstehung zu verhüten. – Die sogenannte galoppirende Lungenschwindsucht, welche lediglich durch eine krankhaft beschleunigte, mit übermäßigem Blutandrange verbundene Lebensthätigkeit und raschern Stoffwechsel in den Lungen ohne alle Entzündung und Eiterung herbeigeführt wird, beobachtet man fast nur bei Personen von 15–20 Jahren und ist besonders für Solche zu befürchten, die durch den sogenannten schwindsüchtigen Körperbau schon im voraus Anlage zur Krankheit verrathen. Dieser besteht in schlanker, hoch aufgeschossener Statur, zartgeformtem Gliederbau, unverhältnißmäßig langen Gliedmaßen, namentlich [141] langen und schmalen Händen und Füßen, länglich geformtem Gesicht mit einer rosigen, umschriebenen Röthe der Wangen, langem, dünnem Halse, in einem unverhältnißmäßig langen, engen, und vorn abgeplatteten Brustkasten, hohen Schultern mit flügelartig abstehenden Schulterblättern, milchfarbigen, schmalen und langen Zähnen, seiner, zarter Haut, meist blondem Haar u.s.w. Die Krankheit selbst beginnt mit einem öfter wiederkehrenden, angreifenden und schmerzhaften Husten, der meist trocken ist, höchstens etwas Schleim, dann und wann aber etwas Blut von hellrother Färbung zu Tage fördert, wobei der Athem anfangs blos beim Treppensteigen, raschen Gehen u.s.w. im weitern Verlaufe aber für beständig kurz, schnell und keuchend wird und das sich bald hinzugesellende, in der Regel kurz nach Tische eintretende schleichende Fieber den Kranken auffallend schnell aufreibt, sodaß er oft schon nach 6–8 Wochen, nachdem die Krankheit vorher vielleicht noch zur eiterigen Lungensucht geworden, eine Beute des fast nie abzuwendenden Todes wird. – Nächst den Lungen oder gleichzeitig mit ihnen sind nun, wie schon erwähnt, der Kehlkopf und die Luftröhre am häufigsten der Sitz einer die Halsschwindsucht bedingenden Vereiterung oder Verschwärung. Die Kehlkopfs- und Luftröhrenschwindsucht sind in ihrer Entwickelung und in ihrem Verlaufe noch viel heimtückischer als alle eben besprochene Arten von Schwindsucht und beruhen wesentlich auf stellenweiser Vereiterung oder Verschwärung der die ebengenannten Organe auskleidenden Schleimhaut. Die Erscheinungen, an denen man die Krankheit erkennt, sind: häufiges Kitzeln oder ein Gefühl von Druck, Brennen und Wundsein im Kehlkopfe oder der Luftröhre, einzelne, schnell durchfahrende Stiche, Empfindungen, die besonders nach anhaltendem Sprechen, Singen, Spielen von Blasinstrumenten, beim Verschlucken großer Bissen u.s.w. rege werden, ein sich ziemlich oft, besonders beim Sprechen, einstellender Reiz zum Husten, der anfangs trocken ist, später aber kleine, schleimige oder eiterige Klümpchen auswirft, ferner belegte, nach und nach immer heiserer werdende Stimme, zuweilen auch völlige Stimmlosigkeit, Kurzathmigkeit, später ein eigenthümlich widriger, süßlicher Geruch aus dem Munde, in welchem wol auch Schwämmchen entstehen, schleichendes Fieber, zuletzt ebenfalls im höchsten Grade entkräftende Nachtschweiße und Durchfälle. Eine erbliche Anlage, häufige, vernachlässigte, nie ganz gehobene Katarrhe begünstigen die im Entstehen oft ganz unbeachtet bleibende Entwickelung der Krankheit in dem Jünglings- und mittlern Lebensalter, während Kinder und Greise ganz von ihr verschont zu werden scheinen. Sie ist wol nur in ihrem Beginn heilbar, überhaupt aber eher zu verhüten als zu heilen und zieht sich oft sehr in die Länge. Die Kranken können nicht selten bis wenige Wochen vor ihrem Tode noch herumgehen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 140-142.
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