[652] Wandern, auf die Wanderschaft gehen, wird das Reisen der zünftigen deutschen Handwerksgesellen und Gehülfen nach fremden Orten und Ländern genannt, um sich dort bei auswärtigen Meistern ihr Brot zu verdienen und in ihrer Profession zu vervollkommnen. Es ist deshalb mitunter den Gesellen vorgeschrieben, wohin sie ihre Wanderung zu richten haben, je nachdem ihre Profession hier oder dort besonders schwunghaft betrieben wird. Ebenso bestehen Gesetze, ob die Wanderschaft außerhalb Landes geschehen muß, manchmal auch, ob dies geschehen darf und wie lange sie wenigstens gedauert haben soll, bevor ein Handwerksgesell das Meisterrecht erlangen und wenn er heirathen will, getraut werden kann. Diese Wanderzeit ist gewöhnlich drei Jahre; doch sind viele Ausnahmen davon gebräuchlich. Die Entstehung dieser Gewohnheit fällt gewiß mit der ersten Ausbildung der Gewerbe in Deutschland zusammen und die Zweckmäßigkeit derselben machte, daß es mit Einführung des Zunftwesens den Gesellen gesetzlich zur Pflicht gemacht wurde, zu ihrer gewerblichen Ausbildung fremde Länder zu besuchen. Und diese Zweckmäßigkeit des Wanderns besteht noch immer, so viel mehr auch jetzt für Verbreitung neuer Erfindungen und für den Unterricht der Lehrlinge und Gesellen in gewerblichen und andern nützlichen Kenntnissen (durch gewerbliche Lehranstalten, Sonntagsschulen, polytechnische, Gewerbe- und Kunstvereine) und Fertigkeiten gesorgt ist. Denn nicht blos von diesen findet der wandernde Handwerker Gelegenheit, mehre an der Quelle kennen zu lernen, sondern seine allgemeine Bildung erweitert sich durch Verweilen in der Fremde; er gewinnt an Geschäfts-und Menschenkenntniß, lernt aus eigner Anschauung andere Sitten und Gewohnheiten kennen, wie die seiner Heimat, und sich in ihnen bewegen. Oft erlangt er sehr nützliche Kenntnisse über den Ursprung und die Behandlung der Stoffe, welche sein Gewerbe bedarf, oder er findet einen Ort, wo dasselbe unter besonders günstigen Umständen ausgeübt werden und er sich eine neue Heimat mit Zuversicht gründen kann. Um jedoch vom Wandern die Vortheile zu ernten, welche es darbietet, dürfen die jungen Handwerker nicht ohne die erfoderliche Vorbereitung und nicht zu jung die Wanderschaft antreten. Dem zu Müßiggang Geneigten wird es freilich stets die Gelegenheit darbieten, in der Welt umher zu schlendern, was jedoch mittels policeilicher Maßregeln beschränkt werden kann, wenn Handwerksgesellen, welche eine bestimmte Zeit ohne Arbeit geblieben sind, in ihre Heimat zurückgewiesen werden. Bei manchen Handwerken ist es Gebrauch, daß jedem wandernden Gesellen von Seiten jeder Innung, bei der er sich meldet, ein Geschenk zum Reisegelde gereicht wird; auch pflegt in größern Orten jedes Handwerk zu ihrem Unterkommen seine eigne Herberge zu haben. Unbemittelte Handwerksburschen fallen mitunter dem Publicum durch Ansprechen um Unterstützung sehr lästig, weshalb vielfach die Einrichtung besteht, daß an den Grenzen der Länder und an den Thoren der Städte jeder zurückgewiesen wird, der nicht eine bestimmte Summe Geld, z.B. drei oder fünf Thaler, baar vorzeigen kann. Zu ihrem Ausweis erhielten seit 1731 laut Reichsgesetzes die wandernden Handwerker eine sogenannte Kundschaft als Wanderpaß, während sie früher sich mit einem jedem Handwerke eignen Gruße bei den Meistern legitimirten. So wenig Zuverlässigkeit dieser Handwerksgruß gewährte, so fest hielt der Zunftgeist doch lange noch an demselben, und Gesellen, welche mit Kundschaften wanderten, wurden deshalb spottweise Briefträger, die nach altem Brauche aber auszeichnend Grüßer geheißen. Jetzt sind an die Stelle der Kundschaften fast durchgängig Wanderbücher getreten, welche unter obrigkeitlicher Beaufsichtigung ausgestellt werden, außer einem vollständigen Passe die Bescheinigung enthalten, daß ein Geselle dieses oder jenes Handwerk zünftig erlernt habe. Dahinter folgen unbeschriebene Blätter Papier, auf welche die Behörden und Innungsvorsteher der Orte, wo der Geselle sich nach Arbeit umschaut und welche erhält, oder unverrichteter Sache weiter wandert, Bescheinigungen der Anwesenheit desselben, seines Verweilens und seiner Aufführung ausfertigen, sodaß ein solches Wanderbuch ein fortlaufender Beleg für die vom Gesellen durchreiste Strecke und sein Verhalten abgibt. Während der Anwesenheit des Gesellen an einem Orte behält die Policei sein Wanderbuch in Verwahrung. Ein Beschluß des deutschen Bundes vom I. 1835 hat das Wandern zu einem besondern Gegenstande der gesammten deutschen Policei gemacht und in der neuesten Zeit hat man es wegen politischer Gründe, jedoch zum Theil nur vorübergehend, wiederholt wesentlichen Beschränkungen unterworfen. Die sämmtlichen gesetzlichen Bestimmungen, welche in einem Staate über das Wandern bestehen, werden oft unter dem Namen einer Wanderordnung vereinigt.