Moskau

[298] Moskau. Wenn der Reisende von Petersburg kömmt, erblickt er schon in einer Entfernung von l¼ Stunde das unübersehbare Häusermeer der alten Czarenstadt, überragt von zahllosen glänzenden Thürmen, die im Strahl der Sonne feenhaft leuchten. Trunken weilt das Auge beim Auf- oder Untergange der Sonne auf dieser Milchstraße von Thürmen, Kuppeln und Kreuzen, die von Gold und Silber glänzen. – Das ist die heilige Stadt des altgläubigen Russen, die zweite des ungeheueren Reiches, die Schwelle, auf welcher occidentalische Kultur und orientalische Pracht und Barbarei sich scheidet, wo fränkische Mode, die Tochter des üppigen Paris, neben alt-nationeller Tracht erscheint, wo eine Bevölkerung von 300,000 Seelen sich niedergelassen, aller europ. Nationen und vieler asiatischen. 1054 Gärten, nicht gerechnet 189 [298] Orangerien und 305 Teiche, grenzen theils von Außen an die Stadt, theils durchschneiden sie wie grüne Oasen die Häusermassen, welche von der Moskwa, einem ziemlich ansehnlichen Flusse, bespült werden. Die 4 Quartiere heißen der Kreml, Kitaigorod, Betoigorod und Semlänoigorod; 30 Vorstädte umschließen sie, 21 Klöster und 263 Pfarrkirchen rufen die Gläubigen zum Gebet. Der Kreml, des Altrussen heilige Burg, bildet selbst eine imposante Stadt, und wird am besten mit dem Serail in Constantinopel verglichen. Die vielen öffentlichen Gebäude und Kirchen von der verschiedenartigsten Architektur, welche er umfaßt, liegen auf einem beträchtlichen Hügel, und werden von einer 60 Fuß hohen Mauer im Viereck umschlossen, welche 5 Thore und viele hohe, gothische Thürme hat, die mit grünglänzenden Dächern prangen. Sein Umkreis beträgt mehr als 1 Meile, und an der Außenseite der Mauern befinden sich reizende Gartenanlagen, die Abends von zahlreichen Lustwandelnden besucht werden; auf einer anderen Seite fließt die Moskwa, von einem prachtvollen Granitquai eingefaßt. Durch 2 Thore gelangt man auf den freien, offenen Platz des Kreml's, wo der alte Czarenpalast und einige Kathedralen stehen. Hier befindet sich auch die Rüst- und die ungeheuer reiche Schatzkammer, welche die Reichs- und Krönungskleinodien verbirgt. Vor dem Brande 1812 zählte man im Bereiche des Kreml's 32 Kirchen, jede mit 5 Thürmen und vergoldeten Kuppeln geziert. In der Kathedrale Uspaniä (M. Himmelfahrt) werden die Monarchen Rußland's gekrönt; in jener, des Erzengels Michael, befinden sich mehrere Czarengräber. Der höchste Thurm ist der Iman Weliki, mit der 4000 Pud schweren Glocke, die, wenn sie ertönt, über ganz Moskau ein tiefes, dumpfes, dem fernen Rollen des Donners ähnliches, Getöse verbreitet. Eine noch größere Glocke, vielleicht die größte der Welt, liegt am Fuße des Thurmes, halb in der Erde versunken. Sie hat 22 F. im Durchmesser, und wiegt 12,000 Pud, s. v. w. 443,000 Pfund, 1836 hat man Anstalten getroffen, sie auszugraben und auf einem[299] der Thürme aufzuhängen. Prachtvoll ist die Ansicht des Kreml's zur Zeit der Erleuchtung Moskau's am Krönungstage des Kaisers. Der Haupttheil Kitaigorod, gleichfalls von einer Mauer umschlossen, ist der Hauptsitz des Handels. Auf dem rothen Platze befindet sich das prächtige Kaufhaus, mit unzähligen Buden, wo man kein Produkt europäischer und asiatischer Industrie vergebens sucht. Ein drückendes Menschengewühl belebt zu jeder Tageszeit diese Räume. In Betoigorod, der weißen Stadt, welche die beiden vorhergehenden Theile einschließt, befinden sich die schönsten öffentlichen und Privat-Gebäude, die Universität, das Findelhaus, das Theater, die Börse etc. Der vierte Stadttheil, Semlänoigorod, im Umfang von 2 Meilen, an beiden Ufern der Moskwa, hat die schönsten und geräumigsten Straßen und Plätze, Paläste mit Gärten etc. In den Vorstädten, die wie ein blühender Kranz den Kern der alten Stadt umwinden, findet man einen kaiserl. Sommerpalast, englischen Park von zahllosen Kanälen durchschnitten, und reizende Gartenanlagen. Zu den bedeutendsten Monumenten und Prachtgebäuden gehört das Standbild des Bürgers Minin und des Knees Podharsky, das schöne neue Theater, aus Stein und Gußeisen erbaut, mit 3000 Sitzen die Zuschauer, das große Exercirhaus, die Erlöserskirche, eines der herrlichsten Werke der neueren Baukunst, von Kaiser Alexander errichtet etc. Von den zahllosen wissenschaftlichen und wohlthätigen Anstalten nennen wir nur die Universität (1755 gestiftet), die Bibliothek, das anatom. Museum, die Sternwarte, die Naturalien- und Münzsammlung, das griech. geistl. Seminarium, die adelige Erziehungsanstalt, chirurg.- medicin. Akademie, armenische Schule, zur Bildung von Dolmetschern an oriental. Höfen, Handelsakademie, das Katharinen- und Alexander-Institut, zur Bildung von Mädchen aus dem Adel- und Mittelstande, das kaiserl. Erziehungshaus, die Akademie der Künste, 56 Hospitäler, ein kaiserl. Findel- und Waisenhaus, worin jährlich 5–6000 Kinder aufgenommen werden. Die hier erzogenen, elternlosen[300] Mädchen werden je nach ihren Fähigkeiten zu Dienerinnen, Lehrerinnen, Gouvernanten etc. bestimmt, der Staat sorgt in jeder Beziehung ihr Fortkommen und stattet sie sogar aus, wenn sie heirathen. Moskau ist der Hauptsitz des russ. Kunstfleißes. Man zählt hier 60,000 Webstühle in Baumwolle, 16,000 in Seide und 4909 in Wolle. Die Seidenfabriken allein verbrauchen jährlich für 20 Mill. Rubel rohes Material. Großartig ist die Production in Zucker, Leder, Porzellan, Fayence, Leinwand, Gold- und Silberwaaren, Hüten, Strümpfen, Spielkarten etc. Moskau's Handel ist über das ganze Reich ausgebreitet, die hiesigen Bazars sind reicher, als jene von Petersburg. Der Aufenthalt in M. für einen Fremden ist nicht so kostspielig wie in St. Petersburg. Wohnung und Lebensmittel sind wohlfeil, die wohlangebaute Umgegend liefert Feld- und Gartenfrüchte in großer Menge, zu Wasser werden alle Lebensbedürfnisse in Ueberfluß herbeigeführt. Das Wasser der Moskwa ist kaum trinkbar, diesem Mangel aber hilft die große, von Katharina II. gegründete, 20 Werfte lange Wasserleitung, ab, welche jetzt die Stadt reichlich mit gutem Quellwasser versorgt. – Wenden wir uns nun zur Bevölkerung: Hier lebt der alte russische, reiche, von Staatsgeschäften zurückgezogene Adel, noch im Besitze der Sitten, Gebräuche, oft auch der Trachten seiner Vorfahren. Nur der gemeine Handwerker und Bauer geht zu Fuße; Alles fährt in Droschken und vierspännigen Kutschen. Das Menschengewühl in der Gegend der Kaufhöfe bilden Griechen, Türken, Tataren, Kosaken, Chinesen, in ihren verschiedenartigen, meist malerischen Trachten. Eigenthümlich sind die Droschkenfuhrleute mit den langen Bärten, hohen Mützen, in ihren Talaren von Pelz oder Wolle, welche um die Hüften ein Gürtel schließt, originell ihr Fuhrwerk, das Roß erinnert an das Rennthier des Lappen, die leichte Kibitke an einen Schlitten. Im Frühling gibt es für einen Fremden nichts Interessanteres, als die allgemeine Spazierfahrt am 1. Mai nach einem nahen Walde. Hier kommt die eigentliche[301] Nationaltracht in ihrem ganzen Glanze zum Vorschein. Die Reihe der Wagen und die Zahl der Reiter ist äußerst groß. Man sieht unter den Bäumen und auf dem Rasen Bauern in ihrem schönsten Anzuge sitzen, und ihre Fröhlichkeit durch Jauchzen und Gesänge kund geben. Die Musik der Balaika, die schneidenden Töne der Bauernpfeifen, ein unaufhörliches Händeklatschen, und die wilden Tänze der Zigeuner machen hierbei ein solches verwirrtes Getöse, daß man betäubt wird. Die Frauen der Kaufleute und Krämer sind gleich kostbar gekleidet wie die Fürstinnen, diese nur nach pariser Mode, jene in ihrer Nationaltracht. In der Osterwoche finden alle Abende solche Spazierfahrten nach verschiedenen Orten statt. Merkwürdig ist noch die Brautschau an einem bestimmten Sonntage im Sommer. Die heirathslustigen jungen Leute bilden im engl. Park Reihen, durch diese wandeln im elegantesten Staate die jungen heirathsfähigen Mädchen in Begleitung von Müttern oder Tanten einige Stunden auf und ab, werden gemustert und förmlich ausgewählt. Die, welche ein Jüngling nach seinem Geschmacke findet, verfolgt er ehrerbietig, erkundigt sich nach ihrer Familie, ihren Vermögensumständen, und streitet kein Hinderniß dagegen, so wird sie nach 'kurzer Werbung seine Frau. Merkwürdig bleibt, daß es trotz so kurzer, auf dem Frauenbazar gemachten Bekanntschaft verhältnißmäßig hier weniger unglückliche Ehen gibt, als in Anderen Städten. In Moskau ist das Volk patriarchalischer, höflicher, als in Petersburg. Man trifft weniger Luxus in den Kleidern an, hier begnügt sich die Kammerfrau mit dem bescheidenen Häubchen, in P. setzt sie an Sonn- und Feiertagen den theueren Hut auf. Die Kaufmannsfrauen haben die Nationaltracht in ihrer ganzen Schönheit beibehalten; sie steht ihnen wohl an, sie wissen sie zu tragen, während in Petersburg die Frauen und Töchter der Kaufleute in den franz. Moden, ohne Geschmack und Anmuth, fast lächerlich erscheinen. Hier haben sie die Sarafan, ein Kleid ohne Aermel von Gros de Naples mit Goldtressen gestickt, [302] den Kokoschnick, einen Kopfputz in Form eines Diadems von Sammt, mit seinen Spitzen und Perlen besetzt, die Duschka greyka, ein Mäntelchen mit einem Zibelinpelze besetzt. – Merkwürdig sind die Leichenbegängnisse junger Mädchen. Frauen und junge Mädchen, weiß und farbig, wie für ein Fest gekleidet, folgen dem Sarge, der mit rosenfarbenem Zeuge behängt ist. Niemand trägt Trauer. – Kaffehäuser nach ausländischer Art, und Gasthöfe, wohin man nicht bloß des Essens und Trinkens, sondern der geselligen Unterhaltung wegen kommt, fehlen sehr, dagegen findet man Zuckerbäckerbuden, wo man Kasse, Chokolade, Eis, Wein, Liqueure etc., so wie alle Zeitungen, haben kann. Die Gastfreiheit wird hier auf die dem Russen angeborene Art und Weise ausgeübt; wo der Fremde, einmal eingeführt, ist er stets willkommen. Die moskowitischen Frauen haben in der Regel schön geschnittene Züge, sinnige, schwarze Augen, reiches, dunkles Haar und kräftige Formen, ihr Teint ist in den höheren Ständen sehr zart. Sie sind lebhaft, natürlich, voll Verstand und gutmüthiger Laune, ohne Schwärmerei und Koketterie, dabei gefühlvoll und reich an Fassungsgabe. Ein auffallendes Mißverhältniß findet in Hinsicht der Geschlechter der Einwohnerzahl statt; es verhält sich die weibliche zur männlichen Bevölkerung, wie 1 zu 2. Seit dem Brande von 1812 ist Moskau nicht mehr ein Gemisch von Palästen und Hütten, von majestätischen Kirchen und Barakken, voll Wust und Schmutz: Es hat sich wie ein Phönix aus der Asche erhoben und noch immer erstehen geschmackvolle und geräumige Häuser, leicht und wohnlich von Backsteinen aufgeführt. Der alte düstere Charakter der Czarenstadt wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt: bald werden nur noch die erhabenen Gottestempel das Alterthum dieser in der Hälfte des 12. Jahrhunderts gegründeten Stadt anzeigen.

M.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 7. [o.O.] 1836, S. 298-303.
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