Unbewußt

[543] Unbewußt bedeutet: 1) vom Subject ausgesagt: ohne Bewußtsein (s. d.)[543] im activen Sinne, bewußtlos, nicht wissend, ohne Besinnung (s. d.) und Reflexion (r,. d.), ohne psychisches Erleben überhaupt (relativ – absolut unbewußt). 2) von Erlebnissen ausgesagt: ohne Bewußtheit (s. d.), Bewußtsein im passiven Sinne. a. physiologisch unbewußt: die nicht ins Erleben fallenden organischen Processe. b. psychologisch unbewußt: die psychischen (s. d.) Erlebnisse, die nicht appercipiert (s. d.), nicht selbständig fixiert werden, die ohne innere Wahrnehmung (s. d.), ohne Reflexion (s. d.) verlaufen (unbewußte Urteile, Schlüsse u. dgl.). die unterbewußten (s. d.) Processe. die zu den psychischen Processen vorauszusetzenden functionellen Dispositionen (s. d.), die aber nicht selbst Vorstellungen u. dgl. sind. c. erkenntnistheoretisch: alles nicht ins erkennende Bewußtsein Fällende, das (relativ und absolut) Transcendente (s. d.), das aber für sich wohl selbst Bewußtsein haben, sein kann (s. Spiritualismus, Introjection). Das Psychisch-Unbewußte ist der niederste Grad, das »Differential« des Bewußtseins, nichts absolut Bewußtloses, denn psychisch (s. d.) und bewußt sind Wechselbegriffe. Wohl muß aber scharf zwischen Bewußtsein als bloßer Function (functionellem Bewußtsein) und Bewußtsein als Wissen (s. d.) bezw. als Gewußtem, Appercipiertem, Beurteiltem unterschieden werden (vgl. auch Selbstbewußtsein).

Bei den Anhängern der Lehre von den unbewußten psychischen Vorgängen sowie bei den Gegnern derselben ist es nicht immer klar, ob es sich um das Unbewußte im Sinne des Nicht-Appercipierten, Nicht-Reflexionsmäßigen oder um das absolut Unbewußte handelt.

Die untrennbare Verknüpfung des Bewußtseins mit der Seele betont DESCARTES. Die Seele »denkt« immer, aber es besteht nicht immer Erinnerung (Resp. ad obiect. IV). Ähnlich lehrt MALEBRANCHE (vgl. Rech. III, 2, 7. VI, 1, 5). Nach LOCKE denkt die Seele nicht immer, mit dem Denken aber ist stets Bewußtsein verbunden (Ess. II, ch. 1, §10). Während R. CUDWORTH die Priorität des Unbewußten ausspricht, lassen CL. PERAULT und STAHL das Unbewußte aus dem Bewußtsein hervorgehen (vgl. Volkmann. Lehrb. d. Psychol. I4, 174).

Nach LEIBNIZ entsteht das Bewußtsein (s. d.) aus Bewußtseinsdifferentialen, dem »petites perceptions«, welche für sich allein nicht bewußt sind, durch ihr Zusammenwirken bezw. durch ihre Steigerung aber Bewußtsein constituieren (Gerh. V, 48. VI, 600). »Ces petites perceptions sont donc de plus grande efficacité par leur suites qu'on ne pense. Ce sont elles qui forment ce je ne say quoy, ces goûts, ces images des qualités des sens, claires dans l'assemblage, mais confuses dans les parties. ces impressions que des corps environnants font sur nous, qui enveloppent l'infini, cette liaison que chaque estre a avec tout le reste de l'univers« (l. c. V, 48). Sie sind »perceptions insensibles« (l. c. p. 49). Alle Eindrücke wirken auf uns, aber nicht alle sind bemerkbar. von allen Vorstellungen bleibt, etwas zurück, keine kann völlig ausgelöscht werden (Nouv. Ess. II, ch. 1, § 11). Auch den organisch-vegetativen Processen entsprechen psychische Vorgänge, deren man sich aber nicht bewußt ist (l. c. II, ch. 1, § 15. vgl. § 19). Ähnlich lehrt CHR. WOLF (Psychol. rational. § 58 ff.). Unbewußte Vorstellungen gibt es nach BAUMGARTEN (Acroas. Log. § 14), TETENS (Philos. Vers. I, 265). dagegen DE CROUSAZ (Log. I, sct. 3, C. 1) und BONNET (Ess. ch. 35). Nach PLATNER gibt es »dunkle, bewußtlose« Vorstellungen, d.h. solche, denen der kleinste Grad des Bewußtseins abgeht (Philos. Aphor. I, § 63 f.). Das Bewußtsein ist »eine Beziehung der Vorstellung teils auf einen Gegenstand, welchen die Vorstellung ausdrückt, teils auf die Seele, welche die [544] Vorstellung habe« (Log. u. Met. S. 21). »Vorstellungen ohne Bewußtsein sind solche, wo das Anerkennen nicht vollbracht ist«, sie sind das, »was Kant blinde Anschauungen nennt« (l. c. S. 23).

KANT erklärt: »Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen. denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind... Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. – Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkle« (Anthropol. I, § 5). Das »Feld dunkler Vorstellungen« ist sehr groß (ib.). Gegen die (absolut) unbewußten Vorstellungen sind die Kantianer. So E. SCHMID: »Es gibt... keine Vorstellung ohne Bewußtsein, ob es gleich einzelne Bestandteile oder Bedingungen oder Gegenstände oder folgen von möglichen Vorstellungen gibt, die nicht im Bewußtsein vorkommen« (Empir. Psychol. S. 184). Nach REINHOLD ist eine Vorstellung, die nichts vorstellt, keine Vorstellung (Vera. ein. Theor. S. 256). Ähnlich lehrt JAKOB (Gr. d. empir. Psychol. § 83). Nach MAASS gibt es »dunkle Vorstellungen« ohne klares, merkliches Bewußtsein (Üb. d. Einbild. S. 64 ff.). Das Bewußtsein ist von der Vorstellung, deren wir uns bewußt sind, verschieden (l. c. S. 69). »Solange eine Vorstellung dunkel ist, und durch dieselbe niemals etwas als ein Gegenstand vorgestellt und vom erkennenden Subjecte unterschieden..., sondern es wird bloß das zu ihr gehörige Mannigfaltige percipiert. In jeder klaren und mit Bewußtsein verknüpften Vorstellung hingegen wird irgend etwas als Gegenstand vorgestellt... Das also, was da macht, daß etwas (nicht bloß percipiert, sondern) als Gegenstand, als etwas Objectives vorgestellt wird, muß das Bewußtsein ausmachen. Dies ist nun nichts anderes als die Tätigkeit der Seele, wodurch das zu einer Vorstellung gehörige Mannigfaltige zusammengefaßt und in eine Einheit verbunden wird« (l. c. S. 71). – WEISS versteht unter unbewußten Vorstellungen die »intensiv unvollendeten« Vorstellungen (Wes. u. Wirk. d. menschl. Seele S. 136, 139).

Eine unbewußte Urtätigkeit des Ich (s. d.), eine »bewußtseinlose Anschauung des Dinges« lehrt J. G. FICHTE (Gr. d. g. Wiss. S. 399). Nach SCHELLING ist der absolute Grund des Bewußtseins »das ewig Unbewußte, was, gleichsam als die Sonne im Reiche der Geister, durch sein eigenes ungetrübtes Licht sich verbirg« (WW. I 3, 609). Nach C. G. CARUS entfaltet sich das Bewußtsein aus dem Unbewußten. dieses wirkt plastisch-organisierend (Psych.2, 1851, S. 13, 18, 21, 56 ff.). Nach BAADER tritt die das Bewußtsein begründende Wurzel nie selbst ins Bewußtsein (Über d. Urternar, 1816). Nach BOLZANO gibt es »bewußtlose Vorstellungen« (Wissenschaftslehre III, § 280, S. 37). J. SCHALLER lehrt: »Jede besondere geistige Tätigkeit hat die unbewußte Totalität des individuellen Wesens zu ihrer constanten Basis« (Psychol. I, 308). »Das bewußte, freie, geistige Leben ißt ein Proceß, welcher durch eigene Energie sich aus einem ihm nicht entsprechenden unbewußten, unfreien Zustande herauszulösen, zu verwirklichen hat« (l. c. S. 462). – Unbewußte, »verdunkelte«, Vorstellungen als ein »Streben vorzustellen«, als Wirkung der Hemmung (s. d.) actueller Vorstellungen (s. d.), nimmt HERBART an (Lehrb. zur Psychol. S. 16. Psychol. als Wissensch. I, § 36). Nach BENEKE bestehen Vorstellungen als unbewußte psychische Dispositionen (s. d.) fort, entstehen aus Strebungen (s. d.) (Pragmat. Psychol. I, 34 ff.). – Nach SCHOPENHAUER ist der allem zugrunde liegende »Wille« (s. d.) blind, ohne Bewußtsein. Es gibt ein unbewußtes Urteilen (s. Object, Wahrnehmung). Letzteres auch nach L. KNAPP (Syst. d.[545] Rechtsphilos. S. 58 f.). Das unbewußte, nicht durch das Ich appercipierte Denken modificiert den Inhalt des bewußten Denkens (l. c. S. 59). Das Denken wirkt »muskelerregend« (l. c. S. 61). Dem Bewußtsein selbst kommt keine besondere, ursprüngliche Kraft der Verursachung zu (l. c. S. 69), es ist »nur eine begleitende Erscheinung« der Handlungen (l. c. S. 70). Unbewußte psychische Tätigkeit nimmt ROSMINI an (Psicolog. II, 219. vgl. dagegen GALUPPI, Saggio sulla critica della conoscenza 1846/47, III, 6). Ein unbewußtes Denken (in der Wahrnehmung) lehrt JESSEN (Phys. d. menschl. Denk. S. 100 ff.). Gegen die Bezeichnung »unbewußte Vorstellung« für Dispositionen ist LOTZE (Met.2, S. 523), der aber doch unbewußte intellectuelle Functionen annimmt (ib.). Nach FORTLAGE ist der Trieb (s. d.) ursprünglich bewußtlos (Syst. d. Psychol. II. 26 f.) Das Bewußtsein kommt zum Vorstellungsinhalt erst hinzu (l. c. I, 54). Es gibt. unbewußte Associationen (l. c. II, 421 f.). J. H. FICHTE betont: »Dem Bewußtsein actu muß Bewußtsein in bloßer Potentialität zugrunde liegen, d.h. ein Mittelzustand des Geistes, in dem er, noch nicht bewußt, dennoch den specifischen Charakter der Intelligenz objectiv schon an sich trägt. aus diesen Bedingungen vorbewußter Existenz sodann muß das wirkliche Bewußtsein erklärt und stufenweise entwickelt werden« (Zur Seelenfrage, S. 20). Der erste Ursprung des Bewußtseins kann nur »das Product einer Gegenwirkung sein, mit welcher das reale, an sich noch nicht bewußte Seelenwesen einen äußern Reiz beantwortet« (Psychol. I, 6). Das Bewußtsein ist »innere Erleuchtung vorhandener Zustände, so daß sie nunmehr für das Wesen selber existieren, welches sie besitzt« (l. c. S. 81). Es ist als solches »nicht productiv, bringt nichts Neues hervor, sondern es begleitet nur mit seinem Lichte gewisse reale Zustände und Veränderungen in der Seele« (l. c. S. 82). »Bewußtsein ist die entstehende und wieder verschwindende Tat der Seele, mit welcher sie gewisse (gesteigerte) Veränderungen ihres Trieblebens erleuchtet« (l. c. S. 86). Es »schlummert« schon im Triebe (l. c. S. 176 ff.). Auch nach ULRICH ist das Bewußtsein kein ursprünglicher Zustand, sondern Erfolg der Selbstunterscheidung der Seele von den Objecten (Leib u. Seele, S. 318 ff.). Vieles geschieht in der Seele unbewußt (l. c. S. 275, 281). Unbewußte Inductionsschlüsse (s. d.) nimmt HELMHOLTZ an (Phys. Opt S. 443. Vortr. u. Red. I4, 358 ff.. II4, 233). Unbewußt sind sie, »insofern der Major derselben aus einer Reihe von Erfahrungen gebildet ist, die einzeln längst dem Gedächtnis entschwunden sind und auch nur in Form von sinnlichen Beobachtungen, nicht notwendig als Sätze in Worte gefußt, in unser Bewußtsein getreten waren« (l. c. II4, 233). Nach B. CARNERI ist jede sinnliche Anschauung ein unbewußter Schluß (Sittl. u. Darwin. S. 47).

VOLKMANN bemerkt: »Der Vorstellung A eben nicht bewußt sein, heißt: die Vorstellung A zwar haben, aber eben nicht wirklich vorstellen, weil das Vorstellen des A eben in seiner Wirksamkeit behindert wird.« »Des Vorstellens der Vorstellung A nicht bewußt sein, heißt: zwar A, aber nicht dessen Vorstellen wirklich vorstellen. Dieser Fall des unbewußten Vorstellens einer bewußten Vorstellung ist... der ursprüngliche, gewöhnliche und enthält keinen Widerspruch, weil die entgegengesetzten Prädicate nicht demselben, sondern Verschiedenem beigelegt werden. Unbewußtes Vorstellen aber an sich ist ebensowenig ein Widerspruch als unbewußte Vorstellung, denn so wenig eine Vorstellung, weil einmal vorgestellt, immer wirklich vorgestellt bleiben muß, ebensowenig muß das Vorstellen, das, wenn wirksam, jedesmal Bewußtsein ist, auch jedesmal Bewußtsein werden« (Lehrb. d. Psychol. I4, 169). Nach R. HAMERLING ist Bewußtsein[546] nur Selbstbewußtsein (Atomist. d. Will. I, 239). Es gibt unbewußte Vorstellungen, Schlüsse (l. c. S. 243). DU PREL betont: »Statt uns darüber zu verwundern, daß es auch ein unbewußtes Denken gebe, sollten wir einsehen, daß es im Grunde nur ein solches gibt, nämlich zwar auch ein vom Bewußtsein begleitetes, aber kein vom Bewußtsein verursachtes Denken« (Monist. Seelenlehre, S. 75). »Das Bewußtsein ist nicht die Seele, sondern nur ein Zustand der Seele« (l. c. S. 111), es ist keine Kraft, nur Begleitung, Erleuchtung (ib.. so schon HELLENBACH, Geburt u. Tod S. 166. »das Bewußtsein ist nur der Reflex uns unbekannter und unbegreiflicher Gehirnvorgänge,« Der Individual. S. 196). Nach STEINTHAL sind »schwingende Vorstellungen« solche, »welche, ohne bewußt zu sein, dennoch wirken, appercipieren« (Einl. in d. Psychol. I, S. 237). Vorstellungen können unbewußt ein (l. c. S. 132). Nach LAZARUS schwingt neben dem Bewußten eine unbewußte Tätigkeit mit (Leb. d. Seele II2, 228). Nach LIPPS ist alle seelische Tätigkeit zunächst eine unbewußte (Gr. d. Seelenleb. S. 695). »Jede einzelne Empfindung muß gedacht werden als Resultat eines Processes, dessen unbewußte Momente... sicher insofern seelische heißen können, als sie dem Flusse der von Bewußtseinsinhalt zu Bewußtseinsinhalt fortgehenden Tätigkeit unmittelbar mit angehören« (l. c. S. 128). Unbewußte Erregungen wirken weiter (l. c. S. 140 f.). Unbewußte Vorgänge liegen den bewußten zugrunde (l. c. S. 149. vgl. S. 35). Die geistige Tätigkeit als solche ist unbewußt (l. c. S. 16 ff., 466, 591). Die unbewußten Erregungen sind keine Vorstellungen (l. c. S. 36, 42, 150). Nach NIETZSCHE verläuft der größere Teil der Denkarbeit im Unbewußten. »Denn nochmals gesagt: der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiß es nicht. das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil: – denn allein dieses bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mitteilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewußtseins selber aufdeckt« (Fröhl. Wissensch. S. 354. vgl. Bewußtsein).

Nach E. V. HARTMANN hat die Bewußtheit selbst keine Grade nur Gradverschiedenheiten des jeweiligen Inhalts (Philos. d. Unbew. I10, 51 ff.). Der Gegensatz zwischen bewußt und unbewußt ist ein contradictorischer (l. c. II10, 498 ff.). Zu unterscheiden sind: 1) das physiologische, 2) das relativ, 3) das absolut Unbewußte (l. c. III10, 300 ff.). »Das physiologische Unbewußte umfaßt die ruhenden molecularen Prädispositionen der materiellen Centralorgane des Nervensystems, beziehungsweise bei niederen Organismen des Protoplasmas« (Moderne Psychol. S. 76 f.). »Das relativ Unbewußte sind psychische Phänomene, die wohl für Individualbewußtseine niederer Stufen innerhalb des Organismus bewußt sind, für das oberste Centralbewußtsein oder Samtbewußtsein des Organismus aber unter der Schwelle und darum unbewußt bleiben« (l. c. S. 77). Das absolut Unbewußte ist an sich unbewußt und doch psychisch, geistig (l. c. S. 78). Es ist im All »das einheitliche metaphysische Wesen mit den Attributen des unbewußten Willens und der unbewußten Vorstellung« (l. c. S. 79. s. Unbewußte, das). Das Wollen (s. d.) ist »immer unmittelbar unbewußt«. die unbewußte Vorstellung ist »wesentlich ideale Anticipation eines zu realisierenden Willenserfolges«, ist »unsinnlich-übersinnlich, d.h. frei von sinnlichen Empfindungsqualitäten«, concret, singulär, rein activ, productiv, ist »logische Intellectualfunction, analytisch-synthetische Determination des Wollens, intellectuelle Anschauung« (l. c. S. 79. vgl. Philos. Monatsh. Bd. 28, S. 1 ff., 7 ff.. Bd. 4, S. 63 f.). Die unbewußte psychische Tätigkeit setzt die bewußten Phänomene (Mod. Psychol. S. 80. vgl. Bewußtsein). Die geistige Tätigkeit ist,[547] vom Centrum, vom Subject aus gesehen, unbewußt (l. c. S. 81). Das Unbewußte ist »Untergrund des Seelenlebens, das oberste Individualbewußtsein aber nur seine Oberfläche, bis zu welcher nur ein kleiner Teil der unbewußten Vorgänge emporragt« (l. c. S. 121). »Die productive, formierende und realisierende Tätigkeit selbst fällt nicht unmittelbar ins Bewußtsein, bleibt direct unwahrnehmbar und kann nur erschlossen und gefolgert werden« (l. c. S. 122). »Das Unbewußte, sowohl das relativ, als auch das absolut Unbewußte kann nur etwas anderes sein ab Hypothese« (l. c. S. 122 f.). »Das relativ Unbewußte liefert das Material für immer höhere und höhere Synthesen. die absolut unbewußte psychische Tätigkeit formt diese Synthesen aus jenem vorgefundenen Material, das sie selbst zuvor auf niederer Stufe geformt hat« (l. c. S. 125). – Arten des (möglichen) Unbewußten: A. Das erkenntnistheoretische Unbewußte: 1) das nicht actuell Gewußte, Gekannte. 2) die objective Wahrnehmungsmöglichkeit. 3) das Unerkennbare. B. Das physische Unbewußte: 4) das Bewußtlose. 5) das Bewußtseinsunfähige. 6) das stationäre physiologische Unbewußte. 7) das functionelle physiologische Unbewußte. C. Das psychische Unbewußte: a. 8) das minder Bewußte. 9) das unklar und undeutlich Bewußte. 10) das Unbeachtete. 11) das nicht reflectiert Bewußte. 12) das nicht auf das Ich Bezogene. b. 13) das in niederen Bewußtseinen bewußte relativ Unbewußte. 14) das in einem höheren Individualbewußtsein bewußte relativ Unbewußte. c. 15) die absolut unbewußte psychische Individualfunction. sie ist überbewußt, ein Positives. 16) das absolut unbewußte Individualsubject der psychischen Individualfunction. D. Das metaphysische Unbewußte: 17) das metaphysische relativ Unbewußte. 18) die absolut unbewußte Universaltätigkeit. 19) der unbewußte absolute Geist, das unbewußte absolute Subject, die Weltsubstanz (Zum Begriff d. Unbewußten, Arch. f. systemat. Philos. VI, 1900, S. 273 ff.). Das psychische Phänomen als solches ist nie absolut unbewußt. »Psychische Phänomene sind immer bewußt, eben weil sie psychische Phänomene oder Erscheinungen sind. darin, daß sie einer Psyche erscheinen, darin besteht eben ihr Bewußtwerden« (Der Urspr. d. Unbewußten, Deutschl. 1903, H. 13, S. 38). Absolut unbewußt sind nur psychische Tätigkeiten (l. c. S. 39 ff.).

Nach HAGEMANN verlaufen die niederen seelischen Functionen »mehr oder minder unbewußt und unwillkürlich« (Met.2, S. 126). Nach GUTBERLET ist das Bewußtsein »jene ursprüngliche Fähigkeit und Tätigkeit des Geistes, durch die er das, was in ihm selbst vorgeht, wahrnimmt, erfährt« (Log. u. Erk.2, S. 170) Die Möglichkeit unbewußter Seelenzustände ist zuzugeben (l. c. S. 171. vgl. Psychol. S. 44 ff.). Nach DILTHEY kommen die primären Denk- und Willensacte nicht zum Bewußtsein (Ideen üb. eine beschreib. u. zerglied. Psychol. S. 46, 52, 60). Nach FR. SCHULTZE ist die Entstehung des Bewußtseins selbst ein unbewußter (physiologischer) Proceß (Philos. d. Naturwiss. II, 276). Unbewußte Seelenprocesse lehrt E. DREHER. Es sind dies »geistige Tätigkeiten, die nicht dem Ich entspringen, deren Producte aber dem Ich zum Bewußtsein kommen können« (Philos. Abhandl. S. 33. Beitr. zu ein. exact. Psycho-Physiol.). Es gibt ein bewußtes und (relativ) unbewußtes Gedächtnis (Grdz. ein. Gedächtnislehre 1892). B. ERDMANN unterscheidet erregtes und unerregtes Unbewußtes (Log. I, 42 ff.. Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. X, 343). Die Apperceptionsmasse ist unbewußt, ist »die erregte Disposition« (l. c. S. 344). W. JERUSALEM erklärt: »Das Unbewußte, dessen Existenz wir keineswegs imstande sind durch[548] directe Erfahrung nachzuweisen, ist für uns ein Denkmittel, dessen wir zum Verständnis des Seelenlebens nicht entraten können.« Das Unbewußte ist wie das Bewußtsein »substratlos, also als ein fortwährendes Geschehen zu denken, welches auf das bewußte Seelenleben ständig einwirkt« (Urteilsfunct. S. 12 f.). In der Wahrnehmung (s. d.) steckt ein unbewußtes Urteil (l. c. S. 220). Unbewußte Schlüsse sind unmöglich (Lehrb. d. Psychol.3, S. 217).

Nicht im absoluten Sinne wird das Unbewußte von FECHNER bestimmt. Unbewußt sind »Empfindungen, welche zwar von einem Reize angeregt sind, aber nicht hinreichend, um das Bewußtsein zu afficieren« (Elem. d. Psychophys. II, 15. vgl. S. 87. Üb. d. Seelenfr. S. 226 f.). Unbewußte Vorgänge in uns sind nur Wirkungen und Beziehungen, »die wir uns nicht in besonderer Reflexion zum Bewußtsein bringen«, sie sind ununterschieden im allgemeinen Bewußtsein, bestimmen dieses mit, ohne für sich zu erscheinen (Zend-Av. I, 160). Das höhere, umfassendere Bewußtsein weiß um mehr als die in ihm befaßten niederen Bewußtseine (l. c. S. 159 ff.). Das Unbewußte ist das Unterschwellige und ist graduell abgestuft (Elem. d. Psychophys. II, 39 ff.. vgl. Schwelle, negative Empfindungen). Das Bewußtsein geht dem Unbewußten voran, dieses entsteht (durch Mechanisierung, s. d.) aus jenem. Unbewußt ist es nur, »indem es in einem allgemeinen Bewußtsein aufgeht und Grund zu einer höheren Fortentwicklung desselben gibt« (Zend-Av. I, 282 ff.). HORWICZ faßt das Unbewußtwerden als Verdunkelung (Psychol. Anal. I, 163), nur relativ Unbewußtes (l. c. I, 123, 190 f., 264. II, 121). Nach C. F. FLEMMING besteht das Bewußtsein in einem unmittelbaren Wissen zunächst um Sinnes-Eindrücke, in der Empfindung. »Es gibt kein Bewußtsein ohne Empfindung und keine Empfindung ohne Bewußtsein. Mit andern Worten: Empfindung und Bewußtsein sind untrennbar, oder: das Bewußtsein ist der Empfindung immanent.« Ein völlig unbewußter Seelenzustand ist ein Nonsens (Zur Klär. d. Begr. d. unbewußt. Seelentät. 1877, S. 9, 13 f., 17). Nur ein relatives Unbewußtes, Unterbewußtes anerkennt PAULSEN (Einl. in d. Philos. S. 127 f.). Die unbewußten Vorstellungen sind nichts als die Möglichkeit bewußt zu werden. Das Unbewußte ist »nur ein Minderbewußtes, ein vielleicht zur völligen Unmerklichkeit herabgesetztes Bewußten« (ib.). TH. ZIEGLER identificiert das Unbewußte mit dunklen Vorstellungen und mit Dispositionen (Das Gefühl2, S. 51 f.). Als geistige Disposition (s. d.) bestimmt das Unbewußte EBBINGHAUS. Die unbewußten Vorstellungen sind den bewußten nicht direct ähnlich (Grdz. d. Psychol. I, 53 f.). »Unbewußt geistig« ist das, »was wir zur Herstellung eines befriedigenden psychischen Causalzusammenhanges vorauszusetzen haben« (l. c. S. 55). Es besteht in »Vorstellungen in Bereitschaft«, d.h. »Vorstellungen, die noch nicht selbstbewußt, aber dem Bewußtwerden nahe sind« (l. c. S. 56. Ausdruck schon bei HUME, Treat. I, Sct. VII, STEINTHAL). Nach REHMKE ist das Unbewußte nur relativ, nur Unbeachtetes u. dgl. (Allg. Psychol. S. 60 f.). Nach SCHUBERT-SOLDERN sind unbewußte Vorgänge jene, »deren Intensität zu schwach ist, um eine währende Erinnerung zurückzulassen, die daher längere Zeit nach ihrem Eintreten nur aus anderen Tatsachen erschlossen werden könne« (Gr. ein. Erk. B. 48). Nach BRENTANO gibt es keine unbewußten Vorstellungen, nur unbewußte Dispositionen (Psychol. I, 76). Es kann das Bewußtsein um den Bewußtseinsact fehlen, es gibt also ein relativ Unbewußtes (l. c. S. 132 f., 137, 143, 147, 180, 223). A. HÖFLER bemerkt: »Wir nennen einen psychischen Vorgang oder Zustand bewußt im ursprünglichen Sinne, d. i. gewußt, wenn und[549] insofern er Gegenstand eines Wahrnehmungsurteiles wird. – Ein psychischer Vorgang sei unbewußt, heißt..., er sei nicht Gegenstand eines auf ihn gerichteten Actes der inneren Wahrnehmung« (Psychol. S. 273 f.). SIGWART betont, »daß unsere psychischen Vorgänge als solche nur insofern existieren, als sie bewußt sind, und daß darin ihr unterscheidender Charakter liegt« (Log. II2, S. 193). Es gibt aber unbemerktes Psychisches, unanalysierten Hintergrund (l. c. S. 195). Es gibt Functionen, »deren Resultat allein zum deutlichen Bewußtsein kommt, während sie selbst ohne Reflexion, jedenfalls ohne jenes unterscheidende Beachten, vollzogen werden« (l. c. S. 196). In diesem Sinne gibt es auch unbewußt vollzogene Synthesen (ib.). Nach HÖFFDING bedeutet »unbewußt« 1) unter der Schwelle des Selbstbewußtseins, 2) unter der Schwelle des Bewußtseins (Psychol.2, S. 95 f.). »Bei jedem bedeutungsvollen Bewußtseinszustand ist... vieles mitbetätigt, das nicht zu unserem Bewußtsein kommt« (l. c. S. 98). Mittelglieder werden übergangen (l. c. S. 99). »Das bewußte Eingreifen wird teilweise durch unbewußte Motive bestimmt und hinterläßt ebenfalls unbewußte Wirkungen« (ib.). »Durch den Zusammenhang mit dem bewußt Aufgefaßten kann auch ein unbewußter Eindruck wieder in der Erinnerung hervorgerufen werden« (l. c. S. 101 f.). Die unbewußten Vorgänge sind »psychische Analoga«, niedere Grade des Bewußtseins (I. c. S. 108. Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 14. Bd., S. 241). U. CORNELIUS versteht unter unbewußten psychischen Tatsachen die »dauernden gesetzmäßigen Zusammenhänge, welche unser gesamtes psyhisches Leben beherrschen« (Einl. in d. Philos. S. 306 f.).

Gegen die unbewußten Vorstellungen ist ZIEHEN (Leitfad. d. physiol. Psychol. S. 31 u. ö.). WUNDT (früher Anhänger der Lehre von unbewußten Geistestätigkeiten, Beitr. zur Theor. d. Sinneswahrn. S. 438) anerkennt kein psychisch Unbewußtes, nur Grade des Bewußtseins (s. d.). Ein Unbewußtwerden einzelner psychischer Inhalte findet fortwährend statt und bedeutet nur deren Verschwinden als solcher. »Irgend ein aus dem Bewußtsein verschwundenes psychisches Element wird aber insofern von uns als ein unbewußt gewordenes bezeichnet, als wir dabei die Möglichkeit seiner Erneuerung, d.h. seines Wiedereintritts in den actuellen Zusammenhang der psychischen Vorgänge, voraussetzen.« Die unbewußt gewordenen Elemente bilden »Anlagen oder Dispositionen (s. d.) zur Entstehung künftiger Bestandteile des psychischen Geschehens, die an früher vorhanden gewesene anknüpfen« (Gr. d. Psychol. S. 248. Philos. Stud. X, 41. das »Unbewußte« bei Reproductionen ist in Wahrheit nur ein Unterbewußtes, Unbemerktes). Ähnlich lehrt G. VILLA (Einl. in d. Psychol. S. 295, 338 ff.), STÖRRING (Psychopathol. S. 246). Nach KULPE sind die unbewußten Vorgänge physiologisch (Gr. d. Psychol. S. 220), haben auf die bewußten Einfluß (l. c. S. 467. vgl. S. 211). Nach JODL ist das Unbewußte nur der neurocerebrale Vorgang oder Zustand, es gibt nur »unbewußte Hirntätigkeit« (Lehrb. d. Psychol. S. 118 f.). DUBOC versteht unter unbewußter Empfindung einen noch nicht zum Bewußtsein gekommenen physiologischen Vorgang (Der Optimism. S. 139, 141).

Für die Annahme unbewußter Vorstellungen ist W. HAMILTON (vgl. Lect. on Met. I, sct. XI, p. 182 ff.. XVIII, p. 338 ff.). ähnlich MORELL, MURPHY dagegen J. ST. MILL (Examinat. ch. 8 f.), nach welchem es nur unbewußte Nervenzustände gibt (l. c. ch. 8, 9, 15). Unbewußte Gehirntätigkeit lehrt LAYCOCK (Mind and Brain I, 1860), ferner CARPENTER (Mental Physiol. 1879, ch 13), F. P. COBBE (Darwinism in Morals and other Essays XI, 1872),[550] MAUDSLEY, (Introduct. to mental philos. p. 38), LEWES. Nach ihm ist das Unbewußte ein »neural process« (Probl. III, 358). Das Bewußtsein ist »an ultimate fact« (l. c. p. 354). »To be conscious of a change, is to feel a change« (ib.). Zu unterscheiden ist zwischen »conscious, subconscious, unconscious« (l. c. III, 360. vgl. p. 143 ff.. Annahme niederer Bewußtseine im Organismus. vgl. BALDWIN, Handb. of Psychol. I, p. 45 ff., 141 ff.). Nach SULLY ist das Unbewußte nur »die Region vager Empfindungen und blinder nichtüberlegter Triebe oder Instincte« (Handb. d. Psychol. S. 102. vgl. JAMES, Princ. of Psychol.. J. WARD, Encycl. Brit. XX, 47 f.). Gegen die Lehre von den unbewußten psychischen Vorgängen ist L. F. WARD (Pure Sociol. p. 123).

Unbewußte Empfindungen nimmt M. DE BIRAN an. Latente Vorstellungen gibt es nach E. COLSENET (La vie inconsciente de l'esprit, 1880), so auch nach H. BERGSON (Mat. et Mém. p. 153 ff.). Latente Tendenzen gibt es nach RIBOT. Das »sentir inconscient« tritt auf als 1) »l'inconscient héréditaire ou ancestral«, 2) »l'inconscient personnel venant de la cénesthésie«, 3) »l'inconscient personnelle, résidu d'états affectifs liés à des perceptions antérieures ou à des événements de notre vie« (Psychol. d. sentim. p. 173 ff.). Von unbewußten Perceptionen spricht A. BINET (La psychol. du raisonnem. p. 75). Keine unbewußten psychischen Vorgänge gibt es nach RABIER (Psychol. p. 67 f.). So auch nach FOUILLÉE, der nur unterbewußte, nicht unbewußte Empfindungen u.s.w. anerkennt (Psychol. des id.-forc. II, 340 ff.. Rev. d. deux mond. 1883, Tom. 60). Unbewußte Gehirntätigkeiten lehrt PAULHAN (Physiol. d. l'esprit p. 151 ff.. vgl. L'activité mentale. vgl. DELBOEUF, La psychol. comme science naturelle). – Auf physiologische Vorgänge beschränkt das Unbewußte SERGI (Psychol. p. 234). CESCA nimmt ein psychisch Unbewußtes an (Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 9. Bd., S. 288 ff.). Vgl. J. VOLKELT, Das Unbewußte u. d. Pessim. 1872. – Vgl. Bewußtsein, Vorstellung, Wille, Psychologie, Disposition, Unterbewußt, Vererbung.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 543-551.
Lizenz:
Faksimiles:
543 | 544 | 545 | 546 | 547 | 548 | 549 | 550 | 551
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon