Deutsche Mythologie

[350] Deutsche Mythologie heißt zum Unterschiede von der nordisch-germanischen überhaupt (s. d. Art.), der Götterglaube und Cult der im eigentlichen Deutschland hausenden germanischen Völkerschaften. Die Nachrichten hierüber bei Cäsar, Tacitus, Ammian Marcellin, durch kirchliche Schriftsteller und Gesetze, worunter der indiculus superstitionum et paganiarum des Conciles von Lessines in Flandern im J. 743, sind spärlich, der Zeit nach weit auseinander liegend, verworren und vielfach unzuverlässig. Sie genügen jedoch, um die Aechtheit der Eddas zu bekräftigen und weisen neben Anklängen an die Religionen des Orients und Griechenlands, die sich namentlich in einer dualistischen Weltanschauung vom Licht- u. Schattenreich, im Sonnen-, Mond- und Elementardienst der Sueven so wie im Heroendienst der sächsisch-fränk. Stämme, endlich in einzelnen Göttersagen auffallend offenbaren, auf 3 allen außerchristlichen Religionen gemeinsame Thatsachen hin. Erstens nämlich auf eine fortschreitende Trübung des religiösen Bewußtseins, wie z.B. Alfadur, der Allvater, der einzige persönliche Gott, allmälig zur Personification der Sonne, dann zum Götterhelden Wuotan, Wodan, nordischen Odin herabsank, den man mit der Göttin Frigga vermählte und endlich mit sehr menschlichen Eigenschaften ausstattete. Zweitens wurde das Jenseits immer mehr Abbild des Diesseits und den nationalen Eigenthümlichkeiten entsprechend gestaltet, wie in den Vorstellungen des Lebens in Walhalla und in der Ueberzahl von Göttinen und Halbgöttinen die Freude am Kämpfen, Jagen, Trinken und die Frauenverehrung der Deutschen hervortreten. Charakteristisch ist die »Götterdämmerung«, Ragnarök d. Nordens, der Kampf des Guten und Bösen, welcher nicht in den Menschen hinein verlegt, sondern zwischen guten und bösen Göttern gekämpft wird. Nach schauerlichen Vorzeichen u. Vorgängen endet er mit dem Untergange aller Götter, selbst Odins, und einer Weltverbrennung, aus der eine neue Erde und ein neuer Himmel erstehen, wo aber neben guten Seelen und Wohnungen auch die schlimmen fortdauern. Drittens endlich finden sich Spuren des Einflusses römischer, celtischer, slavischer Anschauungen und bis ins 10. Jahrh. hinein kämpfen heidnische Anschauungen mit christlichen und bis heute hat die deutsche Zähigkeit Spuren der erstern festgehalten. Wodan (Odin) und Frigga, Freyr und Freia, Thor oder Donar (Donnergott), Nerthus, Tyr oder Zio (Kriegsgott), Widar, Saga, Iduna scheinen die vornehmsten Götter und Göttinen gewesen zu sein, an welche sich eine Menge untergeordneter Gottheiten, Asen, Heroen wie Thuisko oder Teut, Mann, noch mehr Göttinen und weibliche Mittelwesen, Nornen (die 3 hellen. Moiren), Alrunen, Valkyren, Wolen, weissagende Frauen (Velleda), cyklopenähnliche Riesen, gute und böse Zwerge mit unsichtbarmachenden Tarn- oder Nebelkappen, Elfen, Feen und Nixen anschlossen. Trotz Tacitus Bericht gab es einzelne Tempel mit geschnitzten Götterbildern, [350] doch dem Grundcharakter der Religion als einem Naturdienst entsprechend standen auf Bergeshöhen, in heiligen Hainen, an Seen (Insel Rügen) Altäre, worauf das Blut von Rindern und andern Thieren, besonders solcher von weißer Farbe floß. Für Menschenopfer unserer heidnischen Vorfahren ist der Bericht laut welchem die Kimbern die gefangenen Römer opferten, nicht das einzige Zeugniß, und bei der Irminsäule mögen die Sachsen noch zu Karls d. Gr. Zeit ihre Feinde geopfert haben. Auch in allen Gewässern, unter der Erde und in der Luft hausten übermenschliche Wesen; einzelne Bäume, besonders uralte Eichen (Bonifaciuseiche in Hessen), Linden, der Wachholder, sowie Thiere, namentlich Pferd und Rind, wurden verehrt, die Schlange (Lindwürmer und Drachen), der Wolf (Wolf Fenrir) und Bär mit einer gewissen religiösen Scheu und der Kuckuck in süddeutschen Gegenden bis heute als glückbringender Vogel betrachtet. Die altdeutschen Vorstellungen von Sittlichkeit werden an den Heldengestalten der Nibelungen großartig und grausig zugleich offenbar. Die 3 Jahresfeste, nämlich das Juul- oder Winter-, Frühlings- oder in Norddeutschland Sommerfest und Herbstfest, waren mit Volksversammlungen (März-, Maifelder) u. Gerichtstagen verbunden. Beim Heere und an Gerichtstagen waren die Priester ebenfalls von Bedeutung, doch bildeten sie schwerlich irgendwo einen besondern Stand und mindestens im Nothfalle war jeder Hausvater zugleich Priester. Vgl. Geschichte des Heidenthums im nördl. Europa, von Mone, Leipzig 1819, 23, 2. B. u. I. Grimmʼs deutsche Mythologie, Göttingen 1835, 2. Aufl. 1843.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 350-351.
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