[722] Deutsche Mythologie, die Lehre von dem Glauben und dem Kultus unsrer heidnischen Vorfahren im eigentlichen Deutschland. Sie hat sich aus religiösen Anschauungen und Gebräuchen entwickelt, die vorher bei allen Germanen und z. T. schon in dem indogermanischen Urvolk vorhanden waren. Dieses stand jedoch vor seiner Spaltung noch auf einer so niedrigen Kulturstufe, daß es ein so ausgebildetes Mythensystem, wie es die vergleichenden Mythologen ihm andichten wollten, sicherlich nicht entwickeln konnte.[722]
Die Quellen für unsre Erkenntnis der deutschen Mythologie fließen spärlich; als solche sind zu nennen: 1) die Berichte der römischen und griechischen Autoren (Cäsar, Tacitus, Plutarch, Strabon, Sueton, Ammianus Marcellinus, Agathias, Prokop) über die Zustände im heidnischen Germanien; 2) die Schriftsteller der frühesten christlichen Zeit (Jordanis, Gregor von Tours, Fredegar, Paulus Diaconus, Widukind u. a.); besonders wichtig sind die Lebensbeschreibungen der in Deutschland wirksam gewesenen Missionare, wie die Vita S. Columbani, S. Galli etc.; 3) die Erlasse der Fürsten und der Geistlichkeit gegen heidnischen Glauben und Brauch; die Abschwörungsformeln, der Indiculus superstitionum u. a.; 4) die überaus dürftigen literarischen Denkmäler, die von heidnischen Deutschen herrühren, wie die beiden 1841 entdeckten Merseburger Sprüche und die Votivinschriften auf Denkmälern, die von deutschen Angehörigen des römischen Heeres den heimischen Göttern geweiht wurden, ein paar Runeninschriften u. dgl.; hierzu kommt dann 5) die Volksüberlieferung aus Mittelalter und Neuzeit, besonders wichtig für die sogen. niedere Mythologie (den Dämonen- und Seelenglauben). Die weit umfänglichern Zeugnisse über das skandinavische Heidentum sind nur mit Vorsicht zum Vergleich heranzuziehen, da im Norden das Christentum erst mehrere Jahrhunderte später als in Deutschland eingeführt wurde und somit dort eine ganze Schicht jüngerer Mythen sich selbständig entwickeln konnte.
Cäsars Angabe, daß die Germanen nur einen einfachen Naturdienst kannten, kann nicht richtig sein, da Tacitus anderthalb Jahrhunderte später bereits einen reich entwickelten Mythus, der einzelne Götter schon wit ethischen Zügen ausgestaltet hatte, sowie einen ausgebildeten Kultus bei ihnen vorfand. Tacitus berichtet nämlich, daß man die Götter in heiligen Hainen, vereinzelt auch schon in wirklichen Tempeln anbetete, sie durch Tier- und Menschenopfer günstig zu stimmen und ihren Willen durch das Losorakel zu erforschen suchte. Nach ihm verehrten sie den der Erde entsprossenen Gott Tuisto (d. h. »den Zweigeschlechtigen«), eine Figur, die dem nordischen Ymir entspricht, der also wahrscheinlich nach germanischer Auffassung nicht ein Gott, sondern ein Riese war, ebenso dessen Sohn Mannus (d. h. »Mensch«), in dem wir das erste anthropomorphe Wesen, den Stammvater der Götter und Menschen, zu erblicken haben. Die Söhne dieses Mannus waren die Ahnherren der drei großen westgermanischen Völkerbünde oder Amphyktionien, der Erminonen, Istwäonen und Ingwäonen; sie hießen demzufolge Ermnas, Istwas und Ingwas und sind vermutlich (nach Müllenhoff) den drei Göttern Tiu (althochd. Ziu, altnord. Tyr), Wodan (althochd. Wuotan, altnord. Odin) und Fro (altnord. Freyr) gleichzusetzen, wenn auch die Verehrung des letztern für Deutschland durch direkte Zeugnisse sich nicht erweisen läßt. Tiu, der alte indogermanische Himmelsgott (altind. Djâus, griech. Zeus), war einst der oberste Gott aller Germanen und hat diese Stelle bei den Erminonen in Süd- und Mitteldeutschland (Alemannen, Schwaben, Chatten, Thüringern und Langobarden) lange behauptet, bis seine Machtbefugnis auf das Gebiet des Krieges beschränkt ward. Daher glaubten auch römische Autoren ihren Mars, dessen Stelle er auch als Gott des dritten Wochentages (Ziestag = dies Martis) vertritt, in ihm wiederzufinden. Bei den Bayern führte er auch den Namen Er, bei den Sachsen auch den Namen Saxnôt (angelsächs. Saxneát). Die Herrschaft des germanischen Götterstaates erhielt statt seiner Wodan. Ursprünglich ein Sturmgott, die Personifikation der bewegten Atmosphäre, ward er von den istwäischen Franken am Rhein zum Himmelsgott erhoben und dann auch unter der Einwirkung dervon Süden und Westen eindringenden Kultur zum Gotte der Erfindung und geistigen Gewandtheit sowie aller höhern Bildung überhaupt, mithin auch zum Gotte der verfeinerten Kriegskunst, der Weissagung und der Poesie. Von Niederdeutschland gelangte seine Verehrung auch zu den Angelsachsen und Skandinaviern. Er ist derselbe Gott, den Tacitus an andrer Stelle Merkurius nennt (der dies Mercurii, hieß bei den Angelsachsen Wôdensdæg, im Norden Ođinsdagr). Ferner erwähnt Tacitus die Verehrung des Herkules (d. h. des Donar, altnord. Thor), der sonst als Gewittergott dem römischen Jupiter verglichen ward (daher Donnerstag für dies Jovis), sowie drei weibliche Gottheiten: die Fruchtbarkeit und Erntesegen spendende Nerthus (vermutlich die Schwester und Gemahlin des nordischen Njord), die auf einer meerumspülten Insel (vielleicht Alsen), wo sieben benachbarte Völkerschaften alljährlich zur Feier eines großen Festes sich zusammenfanden, ihr Heiligtum hatte; die sonst nirgends bezeugte Tanfana, die von den Marsen angebetet ward, und ein von den Sueben verehrtes, der ägyptischen Isis verglichenes Wesen, dessen deutschen Namen der römische Historiker nicht nennt, das aber wahrscheinlich niemand anders ist als die Gemahlin des Wodan, Frija (altnord. Frigg), die durch den zweiten Merseburger Spruch sowie durch den Namen des sechsten Wochentags (Freitag = dies Veneris) auch als deutsche Göttin erwiesen wird; andre, durch die Volksüberlieferung gewährleistete Namen, in der Frija meist als Totengöttin auftritt, sind Herke und Holda. Endlich war dem Tacitus bei den vandilischen Naharvalen der Kultus eines Brüderpaares, Alci genannt, bekannt geworden, die er mit den Dioskuren verglich. Durch Inschriften aus der Römerzeit lernen wir ferner als deutsche Gottheiten kennen den Requalivaho (d. h. »den Dunkelfarbigen«, vielleicht einen Unterwelts- und Todesgott), die Göttinnen Hludana (identisch mit der nordischen Hlodyn), Nehalennia (»die hilfreich Nahende«), Sandraudiga (»die in Wahrheit Reiche«), Vagdavercustis (»die belebend Wirkende«), die letzten drei wohl nur Hypostasen der Nerthus; ferner die beiden »Alaisiagae«, Beda und Fimmila (vermutlich Figuren, die den nordischen Walküren gleichzusetzen sind, wie solche auch im ersten Merseburger Spruch als idisi, d. h. »göttliche Jungfrauen«, auftreten), u. a. Daß auch der nordische Balder, eine Licht- und Sommergottheit, in Deutschland verehrt ward, beweist der zweite Merseburger Spruch, der dieselbe Person auch mit dem (sonst nur durch Ortsnamen bestätigten) Namen Phol bezeichnet. Dasselbe Denkmal erwähnt ferner noch die Göttinnen Sunna (d. h. »Sonne«) nebst ihrer Schwester Sinthgunt (d. h. »die den Weg sich Erkämpfende«), die nur eine Hypostase der ersten zu sein scheint, sowie als Schwester der Frija die Fulla, dieselbe Figur, die auch im Norden als Friggs Dienerin erscheint; auch sie verdankt ihre Sonderexistenz wohl nur einem Beinamen der Reichtum und Fülle spendenden Himmelsgöttin.
Neben der Verehrung dieser Götter bestand in Deutschland noch ein reichentwickelter Dämonen- und Seelenkult, der älter und ursprünglicher ist und zäher im Volke haftet als jene. Von diesen Gestalten der niedern Mythologie sind die Dämonen, die man sich entweder in menschlicher oder in Tiergestalt[723] dachte, als Personifikationen der Naturmächte anzusehen; man unterscheidet demnach Winddämonen (zu diesen gehören z. B. die Elben und Korngeister, wie der Roggenwolf, die Kornmuhme u. a.), Wasserdämonen (der Grendel im angelsächsischen Beowulfmythus, die Nixen u. a.) und Erd- und Gebirgsdämonen (die Zwerge, der schlesische Rübezahl etc.). Auch die Verfinsterung der Himmelskörper schrieb man den Dämonen zu, die in Wolfs- oder Drachengestalt Sonne und Mond zu verschlingen drohten, daher erhob man bei eintretenden Finsternissen Lärm und Geschrei, um die Ungetüme zu verscheuchen. Sehr häufig stellte sich die Phantasie des Volkes die Dämonen als Wesen von ungeheurer Größe (als Ri ef en) vor. Die seelischen Wesen sind die Geister der Verstorbenen (Gespenster), die in der Tiefe der Gewässer oder in den Höhlen der Berge fortleben, oft aber auch im Luftraum sich bewegen, wo dann das Brausen des Windes ihren Umzug verrät. Zu gewissen Zeiten (besonders in den sogen. Zwölften) war, wie man glaubte, die ganze Schar dieser Geister in Bewegung, oft unter Führung eines Gottes (namentlich Wodans). Sehr häufig erscheinen sie auch in Tiergestalt. Den Menschen sind diese Wesen, je nachdem sie im Leben gut oder bös waren, wohlgesinnt oder feindlich: sie warnen vor Gefahren und geben gute Lehren, verursachen aber weit öfter Schaden und Unglück. Zu den bösartigen und daher gefürchteten Wesen dieser Art gehören z. B. die Druckgeister (Alp, Mahre), der das Korn verwüstende Bilwis u. a. Jedoch auch schon während des Lebens (und zwar wenn der Mensch in Schlaf versunken lag) konnte nach der Meinung unsrer Vorfahren die Seele den Körper verlassen und eine andre Gestalt annehmen. Hier hat z. B. der Glaube an Hexen u. Werwölfe seine Wurzel.
Literatur. Die erste wissenschaftliche Darstellung der deutschen Mythologie ist Jakob Grimms »D. M.« (Götting. 1835; 4. Aufl., besorgt von E. H. Meyer, Berl. 187578, 3 Bde.). Vgl. ferner W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen Religion (Götting. 1841); K. Simrock, Handbuch der deutschen Mythologie (6. Aufl., Bonn 1887); Joh. Wilh. Wolf, Die deutsche Götterlehre (2. Abdruck, Götting. 1874); Derselbe, Beiträge zur deutschen Mythologie (das. 185257); A. Holtzmann, D. M. (Leipz. 1874); W. Schwartz: Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum (2. Aufl., Berl. 1862), Der Ursprung der Mythologie (das. 1860), Die poetischen Naturanschauungen (das. 186479, 2 Bde.); Mannhardt: Germanische Mythen (das. 1858), Die Götter der deutschen und nordischen Völker (das. 1860), Wald- und Feldkulte (das. 187577, 2 Bde.), Mythologische Forschungen (Straßb. 1884); Rochholz, Naturmythen (Leipz. 1862); Bratuscheck, Germanische Göttersage (2. Aufl., das. 1878); Pfannenschmid, Germanische Erntefeste im heidnischen und christlichen Kultus (Hannov. 1878); E. H. Meyer, Indogermanische Mythen (Berl. 188387, 2 Bde.); Derselbe, Germanische Mythologie (das. 1891); L. Laistner, Nebelsagen (Stuttg. 1879); Derselbe, Das Rätsel der Sphinx (Berl. 1889); A. Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart (2. Aufl., das. 1869); U. Jahn, Die deutschen Opfergebräuche bei Ackerbau und Viehzucht (das. 1884); Herrmanowski, Die deutsche Götterlehre und ihre Verwertung in Kunst und Dichtung (das. 1891, 2 Bde.); Mogk, Germanische Mythologie (2. Aufl., Straßb. 1898; Sonderabdruck aus Pauls »Grundriß«); W. Gol ther, Handbuch der germanischen Mythologie (Leipz. 1895); E. H. Meyer, Mythologie der Germanen (Straßb. 1903). Eine besondere Zeitschrift für »D. M. und Sittenkunde« (begründet von I. W. Wolf, fortgesetzt von W. Mannhardt) brachte es nur auf 4 Bände (Götting. 185359).
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