[16] Abbreviaturen (lat.), Abkürzungen von Wörtern oder Silben in der Schrift. Die besonders häufigen Abkürzungen der mittelalterlichen Handschriften beruhen auf den Siglen (litterae singulares) und den notae Tironianae des römischen Altertums. Die ältesten Siglen bestanden aus dem ersten Buchstaben des betreffenden Wortes; als sich die Notwendigkeit stärkerer Abkürzung, namentlich in den Rechtshandschriften, geltend machte, stellte man die Siglen durch die zwei oder drei ersten Buchstaben eines Wortes her oder nahm wohl auch neben dem oder den ersten Buchstaben des Wortes noch solche aus der Mitte, vor allem solche, mit denen eine Silbe begann. Die aus dem Altertum stammenden Siglen hat Th. Mommsen bei Keil, »Grammatici latini«, Bd. 4 (Leipz. 1864, S. 265352), herausgegeben. Auf die Bildung dieser jüngern Siglen wirkten bereits die Tironischen Noten ein. Sie sollen von dem römischen Dichter Ennius erfunden sein. Der Freigelassene des Cicero Tullius Tiro (s. Tiro), hat sie vervollkommt, in ein System gebracht und erläutert; endlich hat Seneca eine systematische Sammlung von 5000 Stück hergestellt. Sie dienten hauptsächlich zum Nachschreiben von Reden oder Diktaten. Die Schreiber, die in dieser Geschwindschrift geübt wurden, hießen Notarii (davon unser »Notar«). Wie schnell man damit schreiben konnte, ist z. B. aus einer Angabe des Dichters Martial zu entnehmen, nach der sich berechnen läßt, daß sein Abschreiber in der Minute neun Verse schrieb [16] Lexica Tironiana, d.h. Sammlungen der Tironischen Noten, sind aus dem Mittelalter in ziemlicher Anzahl erhalten; die in ihnen abgebildeten A. gehen in ihrer Mehrzahl gewiß auf das Altertum zurück. Von neuern Arbeiten über diesen Gegenstand set nur W. Schmitz, »Beiträge zur lateinischen Sprach- und Literaturkunde« (Leipz. 1877) erwähnt. Bei der Bildung der einzelnen Note verfuhr man so, daß man aus den Majuskelbuchstaben, mit denen das betreffende Wort geschrieben wurde, charakteristische Teile entlehnte und diese dann möglichst miteinander zu einem Zuge verband. So gewann man für die Wurzel jedes Wortes oder für den Stamm der zusammengesetzten Wörter ein Zeichen, dem wiederum zur Bezeichnung der Endungen Hilfszeichen, seien es Punkte, seien es verkleinerte Buchstabennoten, beigegeben werden konnten. Tironische Noten finden sich meist nur vereinzelt in Büchern; bisweilen sind aber auch ganze Codices in solchen geschrieben. Nach der Form, die den Abkürzungen gegeben ist, kann man unterscheiden solche, die durch Suspension (man setzt den ersten Buchstaben und einen oder mehrere diesem folgende, und darüber den Abkürzungsstrich, z. B. an = ante), oder die durch Kontraktion (man setzt stets den ersten und den letzten Buchstaben des Wortes, nimmt auch wohl aus der Mitte des Wortes noch besonders kennzeichnende Buchstaben, und darüber den Abkürzungsstrich, z. B. dno = domino) entstanden sind. Die beste Sammlung mittelalterlicher lateinischer Abkürzungen findet sich in Walthers »Lexicon diplomaticum« (Götting. 1747); Chassant, »Dictionnaire des abbreviations latines et françaises du moyen-âge« (5. Aufl., Par. 1884) und Cappelli, »Lexicon abbreviaturarum« (Leipz. 1901). In den mittelalterlichen Handschriften, die Werke in den modernen Sprachen enthalten, sind viel weniger Abkürzungen als in den lateinischen angewendet, sie sind zudem fast alle dem lateinischen Abkürzungssystem entlehnt. Noch in die ältesten Drucke gingen viele der damals gebräuchlichen A. über, aber in den letzten Jahrhunderten sind dieselben mit ganz wenigen Ausnahmen, wie und ., für et cetera, völlig abgekommen. Nur der Gebrauch, das ganze Wort durch seinen Anfangsbuchstaben zu bezeichnen, ist besonders bei Titulaturen, und hier wieder am meisten in England, noch stark verbreitet. Als Geschwindschrift dient jetzt die Stenographie (s. d.).
Über die jetzt am gewöhnlichsten vorkommenden A., z. B. die in der Musik, in einzelnen Wissenschaften, in Handel und Wandel wie im schriftlichen Verkehr eingeführten, s. die einzelnen Buchstaben »A« (S. 1), »B« etc. und die betreffenden Stellen im Alphabet.