Arbeitslosigkeit

[692] Arbeitslosigkeit, Mangel an Beschäftigung arbeitsfähiger und arbeitswilliger Personen. A. hat es schon im Altertum sowohl in Griechenland als in Rom von dem Zeitpunkt ab gegeben, da das Wachstum der Bevölkerung zu rasch vor sich ging, um alle Arbeitsfähigen in Gewerbe und Landwirtschaft zu beschäftigen. Namentlich in den griechischen Großstädten gab es im 6. und noch mehr im 5. und den folgenden Jahrhunderten v. Chr. eine mehr oder weniger ausgedehnte A., gegen die teils durch äußere und innere Kolonisation, teils durch Vornahme großer öffentlicher Bauten und andre Mittel angekämpft wurde. Noch größer war zeitweise die A. in Rom gegen Ende der Republik und zu Beginn der Kaiserzeit, veranlaßt durch die Proletarisierung des Kleinbauernstandes durch den Großgrundbesitzer und das Leihkapital sowie die zunehmende Verwendung von Sklaven im gewerblichen Großbetrieb. Die gracchische Reformbewegung führte zu nichts, und die von Gajus Gracchus veranlaßte Getreideverteilung an das hauptstädtische Proletariat trug nur bei, dieses zu vermehren. Im Mittelalter gibt es bei der Menge des verfügbaren Landes keine Arbeitslosenfrage. Mit dem Beginn der Neuzeit tritt sie da und dort zeitweise auf, so in England infolge des Überganges der Grundherren vom Landbau zur Schafhaltung. so auf dem Kontinent infolge der Abschließung der Zünfte und der Störungen des Erwerbslebens durch die vielen Kriege. Die Bekämpfung der A. geschah durch barbarische Strafen, Verweisung der Arbeitslosen in Arbeitshäuser u. dgl. Die gegen Ende des 18. Jahrh. beginnende Gewährung der Freizügigkeit, Gewerbefreiheit etc. wäre an sich geeignet gewesen, manche Ursachen der A. zu beseitigen, wenn sie nicht gerade durch die Freiheit der Berufswahl und des Ortswechsels die Überfüllung mancher Berufe und Orte begünstigt hätte. Namentlich aber hat die Verdrängung der Handarbeit durch die Maschine, die rapide Zunahme der Bevölkerung im 19. Jahrh. und die mit den modernen Produktions- und Absatzverhältnissen zusammenhängenden zeitweisen Krisen und Absatzstockungen eine oft erhebliche A. zur Folge. Zeitweilig Arbeitslose finden sich auch in größerer Zahl in den sogen. Saisongewerben, namentlich im Baugewerbe, da bei der Überfüllung des Arbeitsmarktes die in solchen Gewerben beschäftigten Arbeiter nur schwer für die Zeit ihrer Nichtbeschäftigung Arbeit finden können.

Die Arbeitslosenfrage hat schon Owen, Louie Blanc u.a. beschäftigt und gehört heute mit zu den meisterörterten Problemen der sozialen Frage. Im Deutschen Reich hat man sich genauere Kenntnis des Umfanges der A. dadurch zu verschaffen gesucht, daß man sowohl bei der Berufszählung 14. Juni als bei der Volkszählung 1. Dez. 1895 eine Zählung der Arbeitslosen veranstaltete. Ermittelt wurden unter Weglassung der Kranken im Juni 179,004, im Dezember 553,640 Arbeitslose. Einschließlich der Kranken und nicht erwerbstätigen Angehörigen ergaben die Zahlen 512,543 und 1,474,251. Von den Arbeits losen waren 15,5 Proz. weniger als 8 Tage, 28 Proz. 8–14 Tage, 17,7 Proz. 14 Tage bis 4 Wochen, der Rest länger arbeitslos gewesen.

Aus dem durch diese Zahlen belegten großen Umfang der A. in der Gegenwart erklärt es sich, daß man ihr große Aufmerksamkeit zuwendet und sich nach wirksamen Mitteln zu ihrer Bekämpfung umsieht. Die Verweisung der Arbeitslosen an die meist unzureichende, beschämende, mit verschiedenen Rechtsnachteilen verknüpfte Armenpflege und die Unterbringung in Arbeitshäusern, welch letztere auch nur bei nicht Arbeitswilligen angewendet werden kann, führt nicht zum Ziele. Die Arbeiterkolonien (s. d.) können doch nur einem kleinen Bruchteil der Arbeitslosen eine vorübergehende Unterkunft gewähren. Wirksamer schon ist die Veranstaltung öffentlicher Arbeiten seitens der öffentlichen Körper, insbes. des Staates und der Gemeinde, wie solche durch das preußische Ministerium des Innern 1894 allen Kreisen und Gemeinden nahegelegt und hier und anderwärts auch angewendet worden ist. Von noch größerer Bedeutung ist die Organisation des Arbeitsnachweises (s. Arbeitsnachweis). Ihr Gegenstück findet diese in der Organisation der Arbeitslosenversicherung. Diese letztere wird schon seit längerer Zeit seitens der englischen Gewerkvereine, in kleinem Umfang auch seitens der deutschen geübt, doch hat die Erkenntnis der Unzulänglichkeit dieser Art der Versicherung in neuester Zeit immer mehr den Plan einer staatlichen oder kommunalen Organisation dieser Versicherung gezeitigt, der auch in der Tat schon an einigen Orten zur praktischen Verwirklichung gelangt ist. So ist 1893 in Bern eine städtische Anstalt zur freiwilligen Versicherung gegen A. gegründet worden; eine andre bestand 1895–97 in St. Gallen. In Köln gibt es seit April 1896 eine städtische Versicherungskasse gegen A. im Winter. Wenn die Arbeitslosenversicherung trotz der Anerkennung ihrer Wichtigkeit heute noch in den Anfängen steckt, so liegt dies an der großen Schwierigkeit der Durchführung: an dem Mangel statistischer Grundlagen über Umfang und Dauer der jährlichen A., ohne welche die Gesamtsumme des Bedarfs[692] für diesen Zweck und die Höhe der zu entrichtenden Prämien nicht festgestellt werden kann, an der Schwierigkeit, die verschuldete von der unverschuldeten A. zu trennen, an den schwer zu lösenden Fragen, wie es mit der durch Arbeitseinstellungen bewirkten A. zu halten sei, ob die Versicherung auf Freiwilligkeit oder Zwang zu beruhen habe, wie die Kosten der Versicherung aufzubringen sind etc. Vgl. Adler, Über die Aufgaben des Staates angesichts der A. (Tübingen 1894); Derselbe, Die Versicherung der Arbeiter gegen A. (Bas. 1895); Schanz: Zur Frage der Arbeitslosenversicherung (Bamb. 1895), Neue Beiträge (Berl. 1897) und Dritter Beitrag zur Frage der Arbeitslosenversicherung (das. 1901); v. Meyerinck, Praktische Maßregeln zur Bekämpfung der A. (Jena 1896); Buschmann, Die A. und die Berufsorganisation (Berl. 1897); Eyck, Die A. und die Grundfragen der Arbeitslosenversicherung (Frankf. a. M. 1899); Berndt, Die A., ihre Bekämpfung und Statistik (Berl. 1899); Adler, Artikel A. im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 1 (2. Aufl., Jena 1898); Kehm, Artikel »A.« und »Arbeitslosenversicherung« im »Wörterbuch der Volkswirtschaft«, Bd. 1 (das. 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 692-693.
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