Dickens
[878] Dickens,
Charles, früher bekannt unter dem
Pseudonym Boz, berühmter engl. Schriftsteller, nebst
Thackeray der Hauptvertreter der Londoner Romanschule, geb. 7. Febr. 1812 in Landport bei
Portsmouth, wo sein Vater bei der
Marine angestellt war, gest. 9.
Juni 1870, kam mit seinen mittellosen Eltern 1816 nach
Chatham, im
Winter 1822/23 nach
London, war schwächlich und genoß keine gute Schulbildung, zeichnete sich aber schon als
Kind durch eifriges
Lesen von
Romanen und Dramen aus. Eine
Weile saß der Vater im Schuldgefängnis, und
Charles machte in einem Geschäftshaus
Pakete für 6 oder 7
Schilling die
Woche.
Dann besserten sich die Verhältnisse;
Charles besuchte eine »
Academy« in
Hampstead Road, wurde Advokaturschreiber, wobei er Gelegenheit hatte, das englische Volksleben zu studieren, trieb zugleich im Britischen
Museum literarische
Studien, lernte stenographieren, bekam eine Stelle als
Reporter und zeigte dabei so großes
Geschick, daß er zur Mitarbeit an »
The true sun« und später am »
Morning Chronicle« herangezogen wurde. Im »
Monthly Magazine«, »Morning Chronicle« und in ähnlichen
Zeitschriften veröffentlichte er seit
Dezember 1833 die
Skizzen vom bunten
Treiben der Hauptstadt, die er gesammelt als »
Sketches of London« (1836, 2 Bde.) mit Zeichnungen von
Cruikshank herausgab. Im
August 1834 unterzeichnete er zum erstenmal einen
Aufsatz mit Boz, einer Kinderform für
Moses, wie sein jüngerer
Bruder,
Augustus, nach einem
Knaben im »
Vikar von
Wakefield« gewöhnlich genannt wurde. Eine zweite
Reihe »
Sketches« folgte noch 1836. Seinen Ruhm aber gründete er durch die »
Pickwick papers« (183637), die in wöchentlichen Heften mit
Federzeichnungen von
Cruikshank und Phiz erschienen und von allen
Schichten der
Gesellschaft mit
Freude begrüßt wurden. Das
Buch enthält lustige
Abenteuer einiger Herren des Pickwickklubs, die auf einer Reise durch
England die
Sitten verschiedener Gesellschaftsklassen beobachten. Die
Frische,
Schwäche und Gutherzigkeit des Londoners (
cockney) ist darin mit ebensoviel Menschenkenntnis als Gemütsteilnahme dargestellt, ja literarisch entdeckt worden. D. hat seinem Volke die
Poesie des gewöhnlichen Lebens durch das
Medium des
Humors zum
Bewußtsein gebracht. Am 2. Dez. 1836 heiratete D.
Katharina, die Tochter eines
Kollegen beim »
Morning Chronicle«. Im
Januar 1837 begann er einen zweiten
Roman: »
Oliver Twist«, eine
Erzählung aus den untern Volksschichten (1837 bis 1839). Es folgten: »
Nicholas Nickleby« (1839), noch erfolgreicher als die »
Pickwickier«; »
Master Humphrey's clock« (184041), eine
Reihe von
Erzählungen, in denen die Zeichnung von
Leidenschaften und die Schilderung des oft hoffnungslosen
Elends in den Fabrikstädten besonders ansprechen (aufgelöst in zwei Geschichten: »
The old curiosity shop« und »
Barnaby Rudge«), u. »
Martin Chuzzlewit«, worin manche
Früchte einer inzwischen unternommenen Reise nach
Amerika eingestreut sind. Seine im allgemeinen nicht günstigen
Eindrücke von
Amerika legte er in eignem Zusammenhang nieder in den »
American notes« (1842). D. bewohnte nun ein hübsches
Haus mit
Garten am
Regent's Park, wurde viel gefeiert, auch hoch bezahlt. Er blieb aber auch im Wohlstand ein
Philanthrop und bewährte dies besonders durch seine Weihnachtsgaben: »
A Christmas carol« (1843), »
Chimes« (geschrieben in
Italien, 1844), »
The cricket oa the hearth« (1845), »
Battle of life« (geschrieben am
Genfer See, 1846); »
The haunted man« (1848). Dazwischen entstand der
Roman »
Dombey and son« (184648), ein erschütterndes Bild bürgerlichen Lebens. Mit erstaunlicher Arbeitskraft ließ D. bereits 184950 den mehr autobiographischen
Roman »
David Copperfield« folgen, durch treffliche Charakterzeichnung und einen wahrscheinlichern
Plan vor den andern Werken ausgezeichnet; ferner »
Bleakhouse« (1852), »
Hard times« (1853), »
Little Dorrit« (1855), »
Tale of two cities« (1859), »
Great expectations« (1861), »
Our mutual friend« (186465). Dazu gesellten sich journalistische
Unternehmungen: er wurde 1845
Redakteur der neubegründeten liberalen Zeitung »
Daily news«, in der er »
Pictures of Italy« veröffentlichte, zog sich aber bald von dem
Blatt zurück und begann 1849 die Herausgabe einer Wochenschrift: »
Household words«, die Unterhaltung mit Belehrung verbinden sollte und, seit 1860 u. d. T.: »
All the year round« erscheinend, ungemeine Verbreitung fand. Seine spätern
Romane sind regelmäßig darin erschienen. Eine Ergänzung bildete das monatlich erscheinende
-»Household narrative of current events«, eine Übersicht der Zeitgeschichte. »
A child's history of England« (1852) ist eine behaglich geschriebene Geschichte
Englands. In den von der »
Literary guild«, einer Anstalt für altersschwache Schriftsteller, in den großen Städten gegebenen Theatervorstellungen entwickelte D. auch dramatisches
Talent, wie er denn seit seiner Kindheit sich an Dilettantenschauspielen mit
Lust beteiligte. Indes wirkten die Anstrengungen doch auf seine
Gesundheit, um so mehr, als sich Verluste und Unbefriedigtheit in der Familie (Trennung von der Frau 1858) dazu gesellten; eine Rastlosigkeit befiel ihn, deren
Spuren man in seinen Schriften zuerst in »
Bleakhouse« bemerken will. Auf mannigfachen Reisen und in seinem
Hause Gadshill
Place, das er seit 1856 besaß und verschönerte, suchte er rastlos nach Erholung. Vollends verderblich wurden ihm die Vorlesungen aus seinen Werken, die er seit 1858 in Cyklen in
London, der
Provinz,
Schottland,
Irland und 1868 auch auf einer zweiten Reise nach
Nordamerika hielt. Er gewann
Ehren und ungeheure
Honorare, fühlte sich aber oft am Ende seiner
Kraft. Ein Blutaustritt im
Gehirn führte schließlich seine
Auflösung herbei. Er starb im
[878] geliebten Gadshill Place, während er an dem »Mistery of Edwin Drood« arbeitete, das deshalb Fragment blieb, und wurde in der Westminsterabtei beigesetzt. In den 12 Jahren nach seinem Tode wurden von seinen Werken über 4 Millionen in England verkauft. Die erste Sammelausgabe war schon 1847 begonnen worden. Die »Charles D. edition«, in Amerika unternommen, erschien in England 186870 u. ö.; 1881 in 21 Bdn.; die »Library edition« 1881 in 30 Bdn. Seine »Speeches, literary and social« veröffentlichte Shepherd (Lond. 1870, 2. Aufl. 1883), der auch die »Plays and poems« sammelte (das. 188285, 2 Bde.). Von Gesamtausgaben deutscher Übersetzungen sind zu erwähnen: die Webersche (von Roberts, Leipz. 184270, 125 Bde., illustriert), die Hoffmannsche (von Kolb u. a., Stuttg. 1855ff., 25 Bde.), die Seybtsche (Leipz. 1862, 24 Bde.), die Scheibesche (Auswahl, Halle 1892, 15 Bde.), die Schirmersche (von Heichen, Naumb. 1902ff., 34 Bde.). Zur Erläuterung seiner Schriften veröffentlichte Pierce ein »D. Dictionary« (2. Aufl., Boston 1878). D. schildert das Leben, die Charaktere der Weltstadt von den Gemächern der Aristokratie bis zur Dachstube oder den Kellern, wo die Armut und das Verbrechen wohnen, mit einer glücklichen Mischung von Satire und Gefühl, nicht ohne die Absicht, zu bessern und Mißbräuche zu beseitigen. Das Londoner Leben der mittlern und untern Stände ist seine eigentliche Sphäre; will er weiter hinauf und Bilder aus den höhern Ständen oder aus der Geschichte liefern, so mißlingt es ihm. Sein Pathos reicht aus, wahr und ergreifend den Tod eines Kindes zu schildern; eine tiefe Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, lag nicht in der realen Richtung seines Wesens. Seine Liebesszenen sind gern drollig, seine Verbrecher Ungeheuer. Nebenfiguren baut er sich auf aus einigen Eigentümlichkeiten, Launen, Sprechweisen. Von Frauengestalten weiß er alte Damen und Dienstboten gut zu schildern; seine Liebhaberinnen sind unbedeutend. Dagegen gelingt ihm die Zeichnung von Kindern meisterhaft, weil ihm bei allem Realismus der Sinn des Poeten für das Märchenhafte nicht abging. Dadurch wußte er selbst dem Häßlichen eine Anziehungskraft zu leihen und bei allem Realismus dezent zu wirken. Charakteristisch für seine Romane ist der Mangel an einheitlichem Plan, z. T. wahrscheinlich eine Folge davon, daß sie in Lieferungen erschienen; das Gedränge am Ende, wenn über Hals und Kopf abzuschließen ist, wird oft sehr fühlbar. Aber wie bei Walter Scott bleibt der Verfasser selber und um so mehr der Leser bis zum Ende in Spannung, wie es ausgehen wird. Sein Leben schrieben I. Forster (Lond. 187274, 3 Bde.; zuletzt 1891; deutsch von F. Althaus, Berl. 187275; in abgekürzter Ausg. von Gissing, Lond. 1898), Julian Schmidt (»Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit«, neue Folge, Leipz. 1872), A. W. Ward (1882), Marzials (1887), Kitton (1902), Heichen (1902); vgl. auch Langton, Childhood and growth of D. (1891); G. Dolby, D. as I knew him (neue Ausg. 1900); R. Bluhm, Autobiographisches in »David Copperfield« (Leipz. 1891); »The letters of Charles D.« (hrsg. von seiner Schwiegertochter und ältesten Tochter Lond. 1880, 3 Bde.); »Letters to Wilkie Collins« (das. 1892). Eine brauchbare »Bibliography of D.« lieferte Shepherd (Lond. 1880), zu ergänzen durch Kitton, Dickensiana (das. 1886), der auch »Minor writings of D.« herausgab (das. 1900) und in »The novels of D.« (1897) bequeme Inhaltsübersichten bot. Seinen Jugendeinflüssen ging Benignus nach (Straßb. 1894), seinen Beziehungen zu Addison Winter (Leipz. 1899), zu Fielding und Smollet Wilson (das. 1899).