Frauenraub

[43] Frauenraub (Brautraub), eine früher fast über alle Teile der Welt verbreitete Sitte, nach welcher der Freier die Braut, auch wenn er sich ihres eignen und der Eltern Einverständnisses vorher versichert und, wo dies üblich ist, den Kaufpreis erlegt hat (s. Frauenkauf), mit Gewalt und List entführen muß, während ihre Angehörigen dies zu verhindern suchen, den Entführer verfolgen und ihn zu einem Scheinkampf zwingen. Ein gemeinsamer Schmaus beendigt diese Zeremonie. Die weite Verbreitung dieser Sitte bei niemals miteinander in Verkehr gewesenen Völkern hat zu der Vermutung geführt, daß in derselben eine Erinnerung an die Entstehung der Einzelehe aus der Gemeinschaftsehe (s.d.) zu erkennen sei, oder daß sie auf der ehemals weiter verbreiteten Sitte der Exogamie (s.d.) beruhe, die einen Raub der allemal einem fremden Stamm zu entnehmenden Braut zur Notwendigkeit machte, weshalb man auch in den dichterisch behandelten Sagen vom Raub der Helena und der Sabinerinnen Nachklänge dieser alten Sitte finden will. Tatsächlich stand in den ältern Griechen- und Römerzeiten der Brautraub noch in voller Blüte, doch begnügte sich der Bräutigam später damit, wie dies heute noch in China, Abessinien und selbst in einigen Gegenden Deutschlands geschieht, die Brant über die Schwelle seiner Haustür zu tragen und so den Gewaltakt zu symbolisieren. Bei den alten Germanen bestand der Gebrauch, wie Dargun nachwies, ebenfalls. Noch heute ist die Entführungszeremonie, außer bei vielen Naturvölkern, in einigen Gegenden von Ost- und Westpreußen, Polen, Litauen, Rußland, Zirkassien und der Türkei üblich; in Wales war sie es noch bis vor kurzem. Vgl. Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation (deutsch, Jena 1875); Dargun, Mutterrecht und Raubehe und ihre Reste im germanischen Leben und Recht (Bresl. 1883). – Über F. im strafrechtlichen Sinne s. Entführung.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 43.
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