Westpreußen

[567] Westpreußen, preuß. Provinz (1824–78 mit Ostpreußen zur Provinz Preußen verbunden, s. Karte »Ost- und Westpreußen« im 15. Band), umfaßt, mit Ausnahme der beiden südwestlichen Kreise Deutsch-Krone und Flatow, die zu der polnischen Landschaft Kujavien gehörten, nur Gebiete, die dem Deutschen Ritterorden unterworfen waren, nämlich: Pomerellen (das Kassubenland) auf der linken, Kulmer Land und Pomesanien (nördlich von der Ossa) auf der rechten Seite der Weichsel. W. grenzt im N. an die Ostsee, im O. an Ostpreußen, im S. an Rußland (Polen) und die Provinz Posen, im Westen an Brandenburg und Pommern und umfaßt 25,542 qkm (463,89 QM.).

[Bodengestaltung. Klima.] Die Provinz liegt im Norddeutschen Tiefland und wird von Westen nach O. von dem Norddeutschen Landrücken durchzogen, den die Weichsel in einem tiefern Tale durchbricht, das von der südlichen Grenze bis zur Montauer Spitze, wo Weichsel und Nogat sich trennen, fast durchgehends 7–8 km breit ist, unterhalb aber sich zu dem fruchtbaren Mündungsdelta der Weichsel, den Weichselwerdern, erweitert. Diese liegen sehr tief, an einigen Punkten im O. sogar unter dem Meeresspiegel, und werden gegen Überschwemmungen teils durch Dämme, teils auch durch die Dünen der Frischen Nehrung geschützt. Im Westen von der Weichsel nähert sich der Landrücken der Ostsee. Den höchsten Teil desselben bildet hier das Plateau von Karthaus (s. d.) mit dem 331 m hohen Turmberg, das sich im S. zu einer weiten, 120–180 m hohen Ebene senkt, in der am Schwarzwasser und an der Brahe die 112 km lange, 30–40 km breite Tuchelsche Heide sich befindet. Im O. von der Weichsel tritt der Landrücken gleichfalls in großer Breite auf, mit einer durchschnittlichen Meereshöhe von 80–130 m. Mit dem Landrücken von Ostpreußen her in loser Verbindung steht die Elbinger Höhe, die im Butterberg 198 m erreicht. Die Ostsee bildet an der Küste die Danziger Bucht mit der Putziger Wiek im Westen. Von dem Frischen Haff und der Frischen Nehrung gehört der südwestliche Teil hierher. Der Hauptfluß ist die Weichsel (s. d.), die an der Montauer Spitze sich in die Weichsel und Nogat, am Danziger Haupt in die Danziger und Elbinger Weichsel teilt, mit der Drewenz und Ossa rechts und Schwarzwasser, Montau, Ferse und Mottlau links. Andre Flüsse sind: die Liebe (Alte Nogat), die in die Nogat, der Elbing, der in das Frische Haff mündet, die Rheda, die in die Putziger Wiek fließt, die Leba und Stolpe, die in Pommern zur Ostsee gehen, und endlich die Küddow, die aus Pommern kommt und südwärts zur Netze (in Posen) strömt, sowie die Brahe, die in Posen in die Weichsel mündet. Unter den Kanälen gehört der Elbing-Oberländische Kanal (s. d.) insofern hierher, als die beiden bedeutendsten Seen in seinem Bereich (der Drausen- und Geserichsee) nach W. hinüberreichen. Unter den zahlreichen Landseen sind am bedeutendsten außer den genannten der Sorgensee, der Zarnowitzer See auf der pommerschen Grenze, der Radaunesee, der Weitsee am Schwarzwasser, der Groß-Ziethener und der Müskendorfer See an der Brahe und der Groß-Böttinsee westlich von Deutsch-Krone. Das Klima ist gesund, auf der Höhe des Landrückens aber rauh, die Durchschnittstemperatur bewegt sich zwischen 5,7 und 7,6°. Die jährliche Regenmenge beträgt 50 cm.

[Bevölkerung. Erwerbszweige.] Die Bevölkerung belief sich 1905 auf 1,641,746 Seelen (64 auf 1 qkm), davon 764,719 Evangelische, 844,566 Katholiken und 16,139 Juden. Darunter befanden sich 567,318 Polen, Masuren und Kassuben. Zur Hebung und Vermehrung des deutschen Elements ist durch Gesetz vom 26. April 1886 eine Ansiedelungskommission (zugleich auch für die Provinz Posen) errichtet, die ihren Sitz in Posen hat (vgl. Stumpfe, Darstellung[567] der staatlichen Kolonisation in Posen, W. etc., Berl. 1902; Ausführlicheres s. Ansiedelung). Von der Gesamtfläche der Provinz entfallen auf Ackerland und Gärten 55,6, auf Wiesen 6,4, auf Weiden 6,5 und auf Holzungen 21,7 Proz. In den Weichselwerdern, im Kreise Stuhm und im Kulmer Land findet vielfach Weizenbau statt, während sonst in der Provinz Roggen und Kartoffeln die Hauptfrüchte sind. Auch Garten- und Obstbau blühen in den Weichselwerdern. Der Bau der Zuckerrübe ist eingeführt worden. Im Gegensatz zu den fruchtbaren Werdern stehen die Kreise Schlochau, Konitz, Berent und Karthaus. 1906 lieferte die Ernte: 167,304 Ton. Weizen, 531,038 T. Roggen, 157,934 T. Gerste, 306,012 T. Hafer, 2,531,463 T. Kartoffeln und 809,204 T. Wiesenheu. Der Tabakbau ergab 1,429,741 kg Tabak. Die Waldungen (besonders Kiefern) sind an der Brahe und dem Schwarzwasser und im Kreise Deutsch-Krone am bedeutendsten. Nach der Viehzählung von 1906 hatte die Provinz 252,097 Pferde, 687,667 Stück Rindvieh, 495,501 Schafe, 945,447 Schweine und (1904) 101,241 Ziegen. Die Pferdezucht wird durch das westpreußische Landesgestüt in Marienwerder gefördert. Für die Zucht der Schafe und namentlich der Merinos bilden die Kreise Graudenz, Rosenberg und Kulm den Mittelpunkt. Der Edelhirsch ist selten; häufiger sind Rehe, Hafen und Füchse. Wölfe finden sich noch in der Tuchelschen Heide. Von Wichtigkeit sind die Zucht des Geflügels und die Fischerei (vgl. Seligo, Die Fischgewässer der Provinz W., Danz. 1902). Aus dem Mineralreiche gibt es Bernstein, Torf und Ton, auch einige Braunkohlenlager. Die Hauptbeschäftigungen der Bevölkerung sind: Landwirtschaft, die gewöhnlichen bürgerlichen Gewerbe, Handel, Schiffahrt und Schiffbau. Die Industrie ist nur in einigen Orten (Danzig, Elbing, Dirschau, Thorn) von Bedeutung; daselbst gibt es auch einige größere Eisenwerke. Besondere Erwähnung verdient der Schiffbau in Danzig und Elbing. Ferner sind vorhanden: mehrere Glashütten, Bierbrauereien, Branntweinbrennereien etc. Der Handel, unterstützt durch drei Handelskammern (in Danzig, Elbing und Thorn), ist nur in den Seestädten Danzig und Elbing von Bedeutung. Die Reederei der Provinz zählte 1906: 83 Seeschiffe, fast sämtlich zu Danzig gehörig. Den Binnenverkehr unterstützen die schiffbaren Gewässer und Eisenbahnen. An Vollspurbahnen besaß die Provinz 1905/06: 2002 km, an Straßen- und Kleinbahnen 550 km. Sämtliche Vollspurbahnen sind Staatsbahnen und stehen unter Verwaltung der königlichen Eisenbahndirektionen in Bromberg und Danzig. Für die geistige Bildung sorgen eine Technische Hochschule, 14 Gymnasien, 2 Realgymnasien, 3 Oberrealschulen, 6 Progymnasien, 5 Realschulen, 2 Realprogymnasien, eine Landwirtschaftsschule, 11 Lehrerseminare, 11 Präparandenanstalten, 3 Taubstummenanstalten, eine Blindenanstalt etc. Die Provinz, deren Hauptstadt Danzig ist, wird in 2 Regierungsbezirke geteilt; Danzig mit 12 und Marienwerder mit 17 Kreisen. Für die Justiz besteht ein Oberlandesgericht in Marienwerder mit den 5 Landgerichten in Danzig, Elbing, Graudenz, Konitz, Thorn (s. Textbeilage »Gerichtsorganisation« im 7. Band). In Bromberg befinden sich eine Generalkommission, in Danzig und Bromberg Oberpostdirektionen. Militärisch gehört W. mit Ausnahme der Kreise Deutsch-Krone und Flatow, die zum Bezirk des 2. Armeekorps gehören, zum Bezirk des 17. Armeekorps. In den deutschen Reichstag (s. Karte »Reichstagswahlen«) entsendet die Provinz 13, in das preußische Abgeordnetenhaus 22 Mitglieder. Das Wappen der Provinz ist in Silber ein goldbewehrter schwarzer Adler mit einer Krone um den Hals, aus der ein geharnischter, schwertschwingender Arm emporwächst (s. Tafel »Preußische Provinzwappen«, Fig. 8). Landesfarben der Provinz sind Schwarz, Weiß, Schwarz.

Über die älteste Geschichte Westpreußens s. Preuf;en, S. 292–294. Durch den zweiten Frieden von Thorn kam W. 1466 unter die Hoheit Polens. Die westpreußischen Stände, durch deren Verrat der Orden besiegt worden war, namentlich Danzig, genossen innerhalb Polens wichtige Privilegien, aber die Polonisierung der Landbevölkerung und des kleinen Adels nahm schon im 16. Jahrh. bedeutend zu; die evangelische Lehre wurde vom Lande ferngehalten, und die im polnischen Reiche zunehmende Anarchie machte sich auch in W. namentlich wirtschaftlich geltend. Nur die Städte bewahrten ihre deutsche Kultur und ihre Selbständigkeit, wenn auch mitunter rohe Gewalttaten, wie das Thorner Blutbad (s. Thorn), vorfielen; Danzigs Handel zog aus den wirtschaftlichen Zuständen des polnischen Hinterlandes Nutzen. Im ganzen hatte W. seine frühere Blüte verloren, als es 1772 durch die erste polnische Teilung an Preußen fiel; nur Danzig und Thorn blieben damals polnisch, wurden zwar 1793 auch preußisch, waren aber 1807–13 wieder von W. getrennt. Friedrich d. Gr. teilte W. in mehrere Kammerdepartements und hob den Zustand des Landes in wenigen Jahren durch Regulierung der Weichselniederung, Anpflanzungen, Errichtung von Schulen und Einführung einer geordneten Verwaltung. Seit der Neuorganisation des Staates 1808 bildete W. eine Provinz des preußischen Staates, wurde 1824 mit Ostpreußen vereinigt, glaubte sich aber stets hinter Ostpreußen zurückgesetzt und wünschte die Trennung, die auch trotz des Widerspruchs Ostpreußens 1. Jan. 1878 ins Leben trat. Vgl. Pawlowski, Die Provinz W. in ihrer geschichtlichen etc. Entwickelung (Danz. 1878); Lohmeyer, Geschichte von Ost- und Westpreußen (1. Abt., 3. Aufl., Gotha 1908); Markull, W. unter Friedrich d. Gr. (Danz. 1886); Vallentin, W. seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts (Tübing. 1893); A. v. Boguslawski, 85 Jahre preußischer Regierungspolitik in Posen und W. (Berl. 1901); Kirstein, Handbuch des Grundbesitzes der Provinz W. (4. Aufl., Berl. 1903); »Gemeindelexikon der Provinz W.« (bearbeitet vom königlich Statistischen Amt, das. 1898); Ambrassat, W., ein Handbuch der Heimatkunde (Danz. 1906); Treichel, Volkslieder und Volksreime aus W. (das. 1895); »Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz W.« (das. 1884–1906, Heft 1–12); »Abhandlungen zur Landeskunde der Provinz W.« (das. 1890 ff.); »Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens« (das. 1900 ff.); »Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins« (das. 1880 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 567-568.
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