[944] Stereochemīe (griech.), Lehre von der geometrischen Isomerie, ein Teil der theoretischen Chemie, der die räumliche Lagerung der Atome in den Molekülen der chemischen Verbindungen untersucht. Weitaus die Mehrzahl aller Fälle von Isomerie ist auf die Verschiedenheit der Struktur zurückzuführen; bei gleicher Art und Zahl der das Molekül zusammensetzenden Atome ist die Reihenfolge verschieden, in der sie miteinander verkettet sind. Wo aber die Reihenfolge der Verkettung gleichbleibt, bei Strukturidentität, setzt die Strukturtheorie auch wirkliche Identität, d. h. die Existenz nur eines einzigen Körpers, voraus. Es gibt indessen nicht wenige Fälle, in denen bei gleicher Reihenfolge in der gegenseitigen Bindung der Elementaratome statt der erwarteten Identität Isomerie auftritt. Die Verschiedenheiten derartiger Isomeren sind in chemischer Hinsicht zum Teil sehr gering und äußern sich dann vorzugsweise in dem Einfluß solcher Körper auf die Schwingungsebene des polarisierten Lichtes. Die gewöhnliche Gärungsmilchsäure besitzt ein solches Isomere in der Fleischmilchsäure, die gleiche Struktur besitzt, aber die Polarisationsebene nach rechts dreht, während die Gärungsmilchsäure inaktiv ist. Auch die vier verschiedenen Weinsäuren, die ebenfalls gleiche Struktur besitzen, gehören hierher. Eine Erklärung dieser und einer Reihe ähnlicher Isomerien lieferten Le Bel und van't Hoff. Sie erkannten, daß in allen optisch aktiven Kohlenstoffverbindungen ein sogen. asymmetrisches Kohlenstoffatom vorhanden ist, d. h. ein solches, das mit vier untereinander verschiedenen Atomen oder Atomgruppen verbunden ist. Da nun die vier Valenzen des Kohlenstoffatoms unter sich gleichwertig sind, so müssen sie wohl symmetrisch am Kohlenstoffatom verteilt sein, sich symmetrisch in den Raum erstrecken, also nach den Ecken eines Tetraeders gerichtet sein, dessen Schwerpunkt mit dem des Kohlenstoffatoms zusammenfällt. Unter dieser Voraussetzung zeigt eine einfache geometrische Betrachtung, daß immer nur eine Konfiguration möglich ist, wenn das Kohlenstoffatom mit vier gleichartigen oder mit vier Atomen, unter denen sich ein oder zwei von den übrigen verschiedene Atome befinden, verbunden ist, daß aber, wenn alle vier Atome untereinander verschieden sind, zwei verschiedene Lagerungsfolgen denkbar sind. In diesem Falle können die den beiden Gruppierungsmöglichkeiten entsprechenden Tetraeder nicht zur Deckung gebracht werden, vielmehr ist das eine das Spiegelbild des andern, wie die folgenden Raumformeln zeigen:
Hiernach kann eine strukturidentische Verbindung in verschiedenen Formen auftreten, sobald sie ein asymmetrisches Kohlenstoffatom enthält. Nicht alle Verbindungen dieser Art besitzen optische Aktivität; sie können auch inaktiv auftreten und zwar dann, wenn sie eine Mischung von gleichen Mengen der rechts- und der linksdrehenden Form darstellen. So ist z. B. Propylenglykol optisch inaktiv, läßt sich jedoch in zwei Isomere, ein rechts- und ein linksdrehendes, spalten. Das Molekül der Weinsäuren enthält zwei asymmetrische Kohlenstoffatome. Hier kann also die entgegengesetzte, sich aufhebende optische Wirkung in ein und demselben Molekül zur Geltung kommen, wie bei der inaktiven Mesoweinsäure. Da nun die gleichfalls inaktive Traubensäure eine lockere Verbindung von Rechts- und Linksweinsäure ist, so können die[944] Isomerieverhältnisse bei den Weinsäuren folgendermaßen formuliert werden:
Unter den ungesättigten Verbindungen vom Typus des Äthylen findet sich eine Reihe abnormer Isomerien, die sich den einfachen strukturchemischen Anschauungen nicht unterordnen, wohl aber unter der Annahme eines verschiedenen geometrischen Baues befriedigend erklärt werden können. Sind zwei Kohlenstoffatome mit nur einer Valenz, d. h. in nur einer Richtung, miteinander verbunden, so können sie frei um eine Achse drehbar sein, die in der Richtung der verbindenden Valenz liegt, bei allen ungesättigten Verbindungen, in denen zwei Kohlenstoffatome unter Aufwand je zweier oder dreier ihrer Valenzen miteinander verkettet sind, ist eine solche Drehung ausgeschlossen; die Systeme sind gegenseitig fixiert. Sind nun die mit den Kohlenstoffatomen verbundenen Radikale paarweise verschieden, so wird die freie Rotation durch ein neues Moment beeinflußt, nämlich durch die spezifischen Affinitäten der Radikale. Auch innerhalb desselben Moleküls ziehen sich diejenigen Atome am stärksten an und suchen sich daher möglichst zu nähern, die bei direkter Verbindung die größte Affinität zueinander äußern. Cl wird von H stärker angezogen als Cl von Cl oder H von H, in einem Molekül H2ClC-CClH2 werden sich die beiden Kohlenstoffatome infolgedessen so ordnen, daß nicht die beiden Chloratome, sondern je ein Cl und ein H sich auf derselben Seite der Achse befinden. Dieser Gedanke führt unmittelbar dazu, »begünstigte« und »weniger begünstigte« Konfigurationen anzunehmen, die letztern sind überhaupt nicht beständig oder haben Neigung, in die begünstigte Form überzugehen. Ist nun aber die Lage der beiden Kohlenstoffatome gegeneinander durch doppelte Bindung fixiert, so können die an Kohlenstoff gebundenen Atome die einmal eingenommenen Bindestellen ohne besondere Veranlassung nicht mehr vertauschen, und es ist die Möglichkeit vorhanden, daß außer der begünstigten auch die weniger begünstigte Form existenzfähig ist. Hierher gehört die Isomerie der Fumar- und Maleïnsäure C2H2(COOH)2. Die stereochemische Betrachtungsweise erteilt diesen beiden Säuren die Formeln:
Die zweite Formel wird der Maleïnsäure zugeschrieben, erstens, weil sie die weniger beständige ist, zweitens, weil die Leichtigkeit, mit der sie in ihr Anhydrid übergeht, auf eine gewisse Nähe der Karboxylgruppen schließen läßt. Führt man den Säuren Wasserstoff zu, so gehen beide in gewöhnliche Bernsteinsäure über HOOC.CH2-CH2.COOH. Durch den Übergang der doppelten Bindung in eine einfache schwindet die erste Vorbedingung für die Existenz isomerer Körper, weil die beschränkte Drehbarkeit aufgehoben und freie Rotation möglich wird.
Hydroxylamin ist befähigt, mit fast allen Körpern, welche die Karbonylgruppe = CO enthalten, in folgender Weise zu reagieren:
Unter den so gewonnenen Verbindungen (Oximen) finden sich zahlreiche stereochemische Isomerien, die auf eine verschiedene Lagerung der mit Stickstoff verbundenen OH-Gruppe in bezug auf die mit Kohlenstoff verbundenen Radikale x und y zurückzuführen sind, wie es folgende Formeln verdeutlichen:
Man erkennt unschwer die Analogie mit der Isomerie ungesättigter Verbindungen mit doppelter Kohlenstoffbindung; (CH)''' ist durch N''' ersetzbar. Weiter ist ersichtlich, daß nur bei Verschiedenheit von x und y Konfigurationsunterschiede obwalten können, völlig im Einklang mit der Tatsache, daß wir zwei isomere Oxime des Benzaldehyds C6H5.CO.H, des Tolylphenylketons C6H5.CO.C6H4CH3, jedoch nur ein Oxim des Diphenylketons C6H5.CO.C6H5 kennen. Auch entspricht es den Anforderungen dieser Theorie, daß aus dem Benzil, das die CO-Gruppe zweimal enthält, C6H5.CO-CO.C6H5, zwei isomere Monoxime, aber drei Dioxime dargestellt werden konnten:
Die Isomerie besteht nicht nur bei den Oximen selbst, sondern bleibt auch erhalten, wenn der Wasserstoff der OH-Gruppe durch Alkoholradikale ersetzt wird.
Vgl. van't Hoff, La chimie dans l'espace (Rotterdam 1875; deutsch von Herrmann: »Die Lagerung der Atome im Raume«, 2. Aufl., Braunschw. 1894) und Dix années dans l'histoire d'une théorie (Rotterdam 1887); V. Meyer, Ergebnisse und Ziele der stereochemischen Forschung (Heidelb. 1890); Auwers, Die Entwickelung der S. (das. 1890); Hantzsch, Grundriß der S. (2. Aufl., Leipz. 1904); Bischoff, Handbuch der S. (mit Walden, Frankf. a. M. 1894, 2 Bde.) und Materialien zur S. in Form von Jahresberichten (Bd. 1 u. 2, Braunschw. 1904); Werner, Lehrbuch der S. (Jena 1904); populär: Wedekind, Stereochemie (Leipz. 1904, Sammlung Göschen); Vaubel, Stereochemische Forschungen (Münch. 1898 bis 1899, 2 Tle.).
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