Vertragsbruch

[114] Vertragsbruch (Kontraktbruch), im allgemeinen jede Verletzung eines geschlossenen Vertrags; im engern Sinne (und dieses ist gemeint, wenn von V. schlechthin und von der Frage einer Bestrafung desselben gesprochen wird) der Bruch des Arbeitsvertrags, speziell die widerrechtliche Arbeitseinstellung. Von diesem V. ist im folgenden zunächst die Rede. Ein solcher V. liegt vor, wenn die Arbeitseinstellung den Bestimmungen des Arbeitsvertrags, bez. allgemeinen gesetzlichen Vorschriften zuwider erfolgt, wenn insbes. der Arbeiter die vertragsmäßig, bez. obrigkeitlich festgesetzte Kündigungsfrist nicht innehält und zu dem vorzeitigen Austritt keinen gesetzlich erlaubten Grund hat. Ihn kann ein einzelner begehen, er kann aber auch auf gemeinsamer Abrede einer Mehrzahl von Arbeitern beruhen und von diesen gleichzeitig und gemeinsam vorgenommen werden (widerrechtlicher Streik). Dieser V. war früher in allen Staaten eine strafbare Handlung, mit der Aufhebung der Koalitionsverbote (s. Koalition) wurde er aber in den meisten Staaten straflos.

Das Vorkommen häufiger gemeinsamer Vertragsbrüche von Arbeitern (s. Arbeitseinstellung) hat neuerdings die Frage veranlaßt, ob nicht für solche Arbeiter eine Einschränkung der Freiheit in dieser Richtung notwendig ist. Kein Zweifel besteht darüber, daß eine kriminelle Bestrafung des Vertragsbruchs in einem Falle unbedingt zu rechtfertigen ist: wenn nämlich durch den V. eine im öffentlichen Interesse notwendige Arbeit unterbleiben oder Leben und Gesundheit andrer gefährdet werden würde (Fall der sogen. gemeinen Gefahr). Die Frage dagegen, ob auch in andern Fällen der V. zu bestrafen, ist sehr streitig. Durch den V. wird ein Vermögensschade dem Unternehmer zugefügt, wenn dieser nicht sofort an Stelle der streikenden Arbeiter andre Arbeiter findet. Der Betrieb wird gestört, hört unter Umständen ganz auf, Kapital bleibt unbenutzt, Lieferungsverträge können allenfalls nicht erfüllt werden etc. Diese Wirkung ist die Regel namentlich bei gemeinsamen größern Arbeitseinstellungen. Nur wo sie eintritt oder doch von den Arbeitern erwartet wird, streiken diese; der Zweck ihres Streiks ist, den Unternehmer dadurch zu zwingen. ihre Forderungen zu bewilligen. Wird dem Unternehmer durch den V. ein Schade zugefügt, so haften die Arbeiter zwar nach Zivilrecht für denselben; aber diese Haftbarkeit ist bei der Mittellosigkeit der Arbeiter meist wirkungslos, zudem ist auch der Nachweis der Vermögensbeschädigung oft sehr schwierig zu führen. Ebendeshalb wird die kriminelle Bestrafung des Vertragsbruchs gefordert. Man begründet die Forderung noch weiter damit, daß die Handlung einen hohen Grad von Unmoralität bekunde, den der Staat nicht dulden dürfe; denn sie werde in der Erwartung und Absicht einer Vermögens- oder sonstigen Interessenbeschädigung nur vorgenommen, weil eben die zivilrechtliche Haftbarkeit eine illusorische sei. Man weist ferner darauf hin, daß die Straflosigkeit, wie die Erfahrung lehre, gemeinschädliche Folgen haben könne, daß sie zu einer moralischen Verwilderung der Arbeiter, zu einer Gefährdung ganzer Industriezweige, zu einer Untergrabung der Achtung vor dem Gesetz, zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit führe etc. Gegen die Bestrafung des Vertragsbruchs wird angeführt: daß sie eine Ausnahmemaßregel sei, die notwendig als solche Erbitterung unter der Arbeiterklasse hervorrufe und die sozialdemokratische Agitation unterstütze; daß der V. nicht immer eine Vermögensbeschädigung bewirke, eine Bestrafung auch in diesem Falle jedes Rechtsgrundes entbehre, die Beschränkung der Bestrafung aber auf den Fall nachgewiesener Vermögensbeschädigung das Strafverfahren sehr komplizieren und in vielen Fällen zwecklos machen würde; daß die Bestrafung, um nicht durch sie die schon vorhandene Übermacht der[114] Arbeitgeber beim Abschluß der Arbeitsbedingungen zu steigern, abhängig gemacht werden müsse von der Voraussetzung obrigkeitlicher Normativbestimmungen über den Inhalt der Arbeitsbedingungen, diese Staatsintervention aber erheblichen Bedenken unterliege; daß die Bestrafung bei der zunehmenden Organisation der Arbeiterverbände zu einer Beseitigung oder doch sehr starken Verkürzung der Kündigungsfristen führen würde; und daß endlich bei massenhaften Vertragsbrüchen, an denen Hunderte oder gar Tausende von Arbeitern beteiligt seien, die Durchführung der Exekution unmöglich sein würde. Alle diese und andre Bedenken reichen nicht hin, um die Zulässigkeit der Bestrafung vom rechtlichen und sittlichen Standpunkt unbedingt zu verwerfen, sie lassen jedoch die Zweckmäßigkeit der Maßregel mehr als zweifelhaft erscheinen. Aber anderseits sind die an sich möglichen Nachteile des straflosen Vertragsbruchs so große und kann die Handlung eine so unsittliche und gemeinschädliche sein, daß man jedenfalls Maßregeln ergreifen sollte, um den V. zu verhindern, bez. zu erschweren. Zu diesen Maßregeln gehören: die Ausdehnung der zivilrechtlichen Haftbarkeit auf Arbeitgeber als Teilnehmer und Begünstiger, die obrigkeitliche Anordnung von Kündigungsfristen bei Arbeitsverträgen für die einzelnen Gewerbszweige, die durch Vertrag nicht abgeändert werden dürfen, und die polizeiliche Bestrafung der Übertretung der Vorschrift, ferner die obrigkeitliche Kontrolle der Arbeits- (Fabrik-) Ordnungen, wo solche bestehen, endlich die Organisation von Einigungsämtern (s. d.) und die Gewährung des Rechts der juristischen Person an Gewerkvereine nur unter der Voraussetzung, daß sie statutarisch sich verpflichten, bei Streitigkeiten über Lohn- und Arbeitsbedingungen der Entscheidung eines Einigungsamts sich zu unterwerfen. Bestritten ist die Strafbarkeit der öffentlichen Aufforderung zum V. Die Frage ist im allgemeinen zu verneinen (s. Öffentliche Aufforderung zu strafbaren Handlungen). Vgl. R. Löning, Der V. im deutschen Recht (Straßb. 1876); Sickel, Die Bestrafung des Vertragsbruchs und analoger Rechtsverletzungen in Deutschland (Halle 1876); Dietz, V. im Arbeits- und Dienstverhältnis (Berl. 1890); Böninger, Die Bestrafung des Arbeitsvertragsbruchs der Arbeiter (Tübing. 1892); Hein, Die Verleitung zum V. (Berl. 1906).

Abgesehen von dem Bruch des Arbeitsvertrags, spielt der V. strafrechtlich nur eine sehr bescheidene Rolle. Strafbar ist einmal der Bruch des Heuervertrags (s. d.), dann auch der Bruch von Lieferungsverträgen, die mit einer Behörde über Bedürfnisse des Heeres oder der Marine zur Zeit eines Krieges, oder über Lebensmittel zur Abwendung oder Beseitigung eines Notstandes geschlossen wurden. § 329 des Strafgesetzbuchs droht hier Gefängnis nicht unter sechs Monaten an; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Fahrlässige Nichterfüllung zieht, wenn durch die Handlung ein Schade verursacht worden ist, Gefängnis bis zu zwei Jahren nach sich. Landesrechtlich ist außerdem meist noch der V. des ländlichen Gesindes strafbar.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 114-115.
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