Reim

[5] Reim, 1) eigentlich ein Vers; 2) (Ausreim), der gleiche Laut einer od. mehrer Sylben am Ende der Verse. Der R. ist entweder männlicher od. stumpfer, wenn blos die letzte lange Sylbe zweier [5] Verse überein lautet, z.B. Macht Pracht; oder weiblicher od. klingender, wenn er sich über zwei Sylben erstreckt, z.B. leben geben; od. gleitender (Verso sdrucciolo), wenn er auf drei Sylben ruht, z.B. gießende fließende. Reime, welche sich auf vier u. noch mehr Sylben erstrecken, findet man wohl nur bei Persern u. Arabern in ihren Gaseln. Für den R. hat die Poetik mehre Regeln festgesetzt, z.B. daß bei weiblichen u. gleitenden Reimen die Consonanten stets übereinstimmend sind, also nicht zu reimen Brande brannte; daß die Quantität der Vocale zu berücksichtigen ist, nicht zu reimen wagen u. wachen; daß man nicht dieselben Wörter auf einander reimen soll, es sei denn daß gleichgeschriebene Wörter verschiedene Bedeutung haben (reicher R.), wie rechten Rechten, wagen Wagen. Ein Gedicht kann blos aus männlichen, od. auch blos weiblichen Reimen bestehen, aber beide können auch mit einander vermischt sein, welches das gewöhnlichere ist u. bes. im Sonett die größte Vollendung findet (verschränkte R-e). Wenn sich die ersten Sylben des ersten u. die letzten des zweiten Verses reimen, so nennt man dies Klappreime; z.B.:


Merke dir die Arzenei,

Denn sie dient zur Geistes stärke.

Die Griechen u. Römer hatten keinen R., wenn er sich zuweilen am Ende von Hemistichien findet, ist er nur zufällig. Höchstens bei römischen Verskünstlern, wie bei Ovidius, darf man einen absichtlichen R. annehmen, wo es aber mehr Spielerei ist. In der Kirchenpoesie des 4. Jahrh. aber erscheint der R. schon eingeführt, so findet er sich bei Ambrosius (in der Hymne Chorus novae Hierusalem Reim Novam meli dulcedinem Reim Promat colens cum sobriis Reim Paschale festum gaudiis etc.), Augustinus, Prudentius, Sedulius u.A. Gewöhnlich wurde er in den Politischen Versen, s.d. In der Spätzeit wurden auch Distichen Mode, welche sich reimten, s. Leoninische Verse. Die Romanischen Sprachen haben den R. ebenfalls. Die Italiener bedienten sich aber auch oft blos ähnlich klingender Reime, poi cui, od. reimten bei weiblichen Reimen blos die letzte Sylbe, coloro azzurro; hier bildete sich seit der Zeit der Troubadours durch die Mischung der Reime die Stanze (Ottave), Canzone u. das Sonett aus. Die Spanier haben in ihren Romanzen, Dramen etc. mehr den halben R. (Assonanz, s.d.), entgegengesetzt dem ganzen R. (Consonanz, s.d.), wo blos die Natur der Vocale in Betracht kommt. In Frankreich hat sich der R. erhalten, ungeachtet Rapin den Versuch machte, denselben zu verbannen; die ersten französischen gereimten Gedichte sind aus dem 11. Jahrh. In der ältesten deutschen Poesie (wie auch in der Altnordischen u. Angelsächsischen) herrscht die Alliteration (s.d.); der Endreim gelangte erst in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. zur Alleinherrschaft, obgleich sich einzelne Spuren schon früher in alliterirenden Gedichten finden, sowie auch umgekehrt die Alliteration nicht auf einmal aus der gereimten Poesie verschwand. Die älteste größere deutsche Dichtung mit Endreimen ist Otfrieds (s.d.) Evangelienharmonie; die Verse sind ihrem Grundtypus nach ganz wie die im Hildebrandsliede gebaut, d.h. sie bestehen aus Langzeilen mit acht Hebungen, mit deren letzter der Vers schließt. Die Endreime treten als Bindemittel der beiden Vershälften ein; da sie auf die letzte Hebung jedes Verses fallen, müssen sie einsylbig od. stumpf sein. Völliger Gleichlaut ist zwar Regel, aber nicht durchgreifend; oft reicht bloße Assonanz aus. Es finden sich Ausgänge von Vershälften, welche den klingenden Reimen der späteren Poesie analog scheinen, von ihnen aber dadurch verschieden sind, daß hier auf die gleichlautenden Sylben zwei Hebungen fallen, während die neuere Poesie auch auf den klingenden Reim nur Eine Hebung fallen läßt. In der Mittelhochdeutschen Periode, als die Vocale der Schlußsylben der Mehrzahl nach zu einem unbetonten herabgesunken waren, war der Gleichklang der Sylben nicht mehr genügend, so daß sich der Reim immer mehr auf die Wurzeln der Wörter zurückzog. Bei dem Schwanken zwischen der alten u. der neuen Weise, blieb der R. noch lange Zeit mehr od. weniger ungenau u. roh. Noch um die Mitte des 12. Jahrh. finden sich die Verse häufig durch tieftonige od. unbetonte Endungen gebunden; wo neben gleicher, oft auch nur ähnlicher Klang der Stammsylben gesucht wird. Ein Streben nach Gesetzmäßigkeit wird jedoch seit jener Zeit ersichtlich; noch vor Heinrich von Veldeke, welcher gewöhnlich als der erste genaue Reimer gerühmt wird, zeigen einige Gedichte strenge Reime. Nach des genannten Dichters Vorgange wird bei den höfischen Dichtern die genaue Beobachtung des mittelhochdeutschen Reimgesetzes, völliger Gleichlaut der Vocal u. Consonanten in den Bindungen, zur Regel; mit Hartmann von Aue hat die Kunst des Reimes die höchste Ausbildung erreicht. Die mannigfache Ausbildung der lyrischen Formen förderte die Genauigkeit des Reimgebäudes; Friedrich von Hausen, Heinrich von Veldeke u. Heinrich von Rucke bedienten sich in Liedern u. Leichen zuerst überschlagender u. künstlich verschlungener Reime in ausgedehnterem Maße; auch wurde um ihre Zeit die scharfe Sonderung zwischen klingenden u. stumpfen Reimen in der lyrischen Poesie völlig entschieden. Seit Mitte des 14. Jahrh. gerieth die Reimkunst wieder in Verfall; mit dem Wegfall aller Kürzen in den Stämmen mehrsylbiger Wörter gingen alle zweisylbigen stumpfen u. dreisylbigen klingenden verloren; es blieben nur noch einsylbig stumpfe, zweisylbig klingende u. dreisylbige gleitende übrig, von denen jedoch die letztere Art wenig benutzt wurde. Das Gesetz genauer Bindung wurde nun bei Weitem nicht mehr so streng beobachtet; wie in der Versmessung, so trat auch im R. eine mit der Zeit wachsende Willkür ein. Mit Opitz, welcher dem kunstmäßigen Dichter auch die Sorgfalt im Reimen zur Pflicht machte, trat Besserung ein; vollkommener Gleichklang wurde erstrebt, doch niemals durchgesetzt. Für stumpf u. klingend kamen die Bezeichnungen männlich u. weiblich auf; dreisylbige Reime, obgleich mehr gemieden als gesucht, zeigen sich, bes. in der Nürnberger Dichterschule wieder häufiger; die sogenannten reichen Reime waren eigentlich verboten. Mittelreime entweder in einer u. derselben Zeile, od. erst in der nächstfolgenden gebunden, waren nicht unbekannt; Mittelreime dieser ersten Art galten bes. den Dichtern der Zesenschen Schule u. bei den Pegnitzschäfern für eine besondere Zier. Die Unentbehrlichkeit der Reime in der Poesie wurde zuerst bestritten von Bodmer, unter den andern Gegnern desselben ist Klopstock zu nennen; dagegen wurde er aber auch mehrfach in Schutz genommen u. sein Fortgebrauch theoretisch (von Gottsched, Lessing, Ramler, I. A. Schlegel) u. praktisch[6] (bes. durch Wieland) gesichert. Gereimte u. reimlose Versarten bestehen seitdem neben einander. Seit etwa 1770 kamen auch die kurzen Reimpaare, bes. durch Goethe's Einfluß (schon Breitinger hatte sie anstatt der Alexandriner empfohlen) in gewissen dramatischen u. erzählenden Dichtungen wieder zur Geltung. Diese Versart besteht aus gepaarten Zeilen von je vier Hebungen u. war bis auf den Anfang des 17. Jahrh. die Hauptform für die unstrophischen Werke der volksmäßigen Dichtung, u.A. bes. von Hans Sachs gebraucht. Mit dem Auftreten der neuen Kunst waren dieselben als Knittelverse od. Pritschreime verworfen worden. Die Chinesen, Mandschu u. Malaien haben den R. ebenfalls, schon der Schiking (s. Chinesische Literatur) ist gereimt. Zur Aufsuchung der Reime dienen die Reimlexika; sie enthalten eine Zusammenstellung aller in einer Sprache vorkommenden Reimendungen; ein solches z.B. von Peregrinus Syntax (Ferd. Hempel), Lpz. 1825, 2 Bde. Vgl. Poggel, Grundzüge einer Theorie des Reims, Hamm 1834; Wolf, Über Lais, Sequenzen u. Leiche, Heidelb. 1841.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 5-7.
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