Poëtik

[231] Poëtik, die Theorie der Dichtkunst, od. der Inbegriff der Regeln der Dichtkunst im Allgemeinen u. der einzelnen Dichtungsarten insbesondere u. die Regeln der äußeren Form eines Gedichts; ein Theil der Ästhetik. Die Form ist um so wichtiger, da in einem Kunstwerke die Form dem Inhalte, der Ausdruck dem Gedanken entsprechen muß. Der Ausdruck der Poesie ist die durch Gesetze des schönen Ebenmaßes gebundene Rede. Die Ausdrucksweise ist bei verschiedenen Völkern u. in verschiedenen Zeiten eine verschiedene. So ist das Charakteristische des antiken Verses Sylbenmessung, die des modernen mehr Sylbenzählung, obgleich auch Beides wieder theilweise beiden gemein ist; die orientalischen Gedichte werden zum Theil blos nach Sätzen gemessen, ohne die einzelnen Sylben zu berücksichtigen (Parallelismus membrorum); die altgermanisch, Dichtkunst bestimmte den Vers nach Anklängen der Wörter (Alliteration, s.d.), an verschiedener Verstheilen, wofür der spätere Geschmack die Gleich.[231] klänge am Ende der einzelnen Verse (Reim, s.d.) wählte, aber dabei Sylbenzählung beibehielt; die spanische Poesie wählte den Gleichklang der Vocale (Assonanz) im Inlaut. Das Allgemeine der Gesetze des schönen Ebenmaßes für die antike u. die nach derselben im Äußeren gebildete moderne Poesie ist in der Lehre von dem Rhythmus, dem Metrum u. der Prosodie begriffen. A) Rhythmik ist die Lehre von der geordneten Folge von Zeittheilen, welche durch die Stimme markirt wird (Rhythmus), u. zwar durch den Wechsel von Stärke od. Hebung u. Senkung der Stimme; die Hebung als größere Anstrengung der Stimme beim Aussprechen der Sylben, heißt Ictus, bezeichnet durch -; die Sylbe, welche den Ictus erhält, steht in der Arsis; diejenige, bei welcher sich die Stimme senkt, in der Thesis; B) Die Prosodik ist die Lehre von der Geltung der Sylben nach der Zeitdauer (Zeitmaß, Quantität, Prosodie); die kürzeste Zeit, welche zum Aussprechen einer Sylbe nöthig ist, ist eine Mora; eine Sylbe, welche dieses einfache Maß hat, ist kurz (bezeichnet durch ∪); eine Sylbe, welche zum Aussprechen zweier solcher Moren bedarf, ist lang (bezeichnet durch Poëtik); manche Sylben können lang u. kurz gebraucht werden u. heißen daher mittelzeilig (ancipites, bezeichnet durch Poëtik). In der alten Sprache bestimmte sich das Sylbenmaß theils nach der Natur der Vocale, indem diese an sich entweder lang od. kurz waren; theils nach der Stellung (Position), wobei auf die den Vocalen folgenden Mitlauter Rücksicht genommen wurde. In der älteren römischen P., z.B. in den Saturninischen Versen, herrschte noch die Geltung des Accentes, unter welchem selbst kurze Sylben lang gebraucht werden konnten, man schrieb hier mehr in accentuirenden Versen, während die Griechen blos quantitirende od. prosodische Verse hatten, doch konnte auch hier der rhythmische Accent in einzelnen Fällen kurze Sylben verlängern. C) Die Metrik lehrt die Zusammenstellung der Sylben zu prosodisch gemessenen Reihen (Versen). Die Verse als längere od. kürzere Reihen zerfallen wieder in kleinere Abschnitte. Das Maß für die Zeitverhältnisse der kleineren Momente eines Versabschnittes nennt man eine metrische Periode, das Maß für jede Arsis mit Thesis einen metrischen Fuß (Versfuß). Die Namen der gewöhnlichen Versfüße sind: a) zweisylbige: Spondeus (- -), Trochäus (– ◡), Jambus (◡_–), Pyrrhichius (◡ ◡); b) dreisylbige: Molossus (–_– -), Bacchius (◡_– -), Creticus od. Amphimacer (– ◡_–), Palim- od. Antibacchius (– – ◡), Amphibrachys (◡_– ◡), Dactylus (– ◡ ◡), Anapästus (◡ ◡_–), Tribrachys (◡ ◡ ◡); c) viersylbige: Choriambus (– ◡ ◡_–), Jonicus a majore (– ◡ ◡), jonicus a minore (◡ ◡_–), Antispastus (◡_– – ◡), Dichoreus od. Ditrochäus (– ◡_– ◡), Diiambus (◡_– ◡_–), Päon primus (– ◡ ◡ ◡), Päon secundus (◡– ◡ ◡), Päon tertius (◡ ◡_– ◡), Päon quartus (◡ ◡ ◡_–), Proceleusmaticus (◡ ◡ ◡ ◡), Dispondeus (–_–_–_–), Epitritus primus (◡ ◡_–_–), Epitritus secundus (– ◡_–_–), Epitritus tertius (– ◡_–), Epitritus quartus (–_–_– ◡); d) fünfsylbige: Orthius (◡ ◡ ◡ ◡), Mesomacer (◡ ◡–◡ ◡), Dasius (◡ ◡ ◡_–_–), Symplectus (–_– ◡ ◡ ◡), Dochmius (◡––◡–), Strophius (– ◡ ◡ ◡–), Parapäon (–◡ ◡ ◡ ◡), Cyprius (◡–◡ ◡–), Calotibus (–_–_– ◡), Probrachys (◡–_–_–), Amöbäus (–_–◡ ◡_–), Antamöbäus (◡ ◡_– ◡). Jede metrische Periode fängt mit der Arsis an, endigt aber entweder wieder mit der Arsis (steigender od. männlicher Schluß) od. mit der Thesis (fallender od. weiblicher Schluß). Doch erscheint auch zuweilen am Anfang der metrischen Periode vor der Arsis noch ein Auftact (Anakrusis). Die Grammatiker unterscheiden noch die Verse nach der Ausfüllung des Metrums; ist in einem Vers das Metrum ganz ausgefüllt, so heißt er ein akatalektischer Vers (z.B. ◡_– ◡_– | ◡_– ◡_–); ist es nicht ganz ausgefüllt, ein katalektischer (z.B. ◡_–_– | ◡_– ◡); ein hyperkatalektischer ist dagegen, wenn er am Ende eine überzählige Sylbe hat (z.B. – ◡_– ◡ | – ◡_– ◡ | –), u. ein brachykatalektischer, wenn er mitten in der Periode schließt (z.B. – ◡_– ◡ | – ◡). Ferner asynartetische u. polyschematistische Verse (s. b.), in welchen widerstreitende Rhythmen vorzukommen scheinen. Über die Clausulae, s. Clausel 3). Der Punkt im Vers, wo die Wortreihe auf der fortlaufenden metrischen Reihe endigt, heißt Cäsur (s.d.). Durch die Verbindung der Rhythmen als Arsen u. Thesen in größeren Dimensionen entsteht das Metrum eines Verses. Besteht das Metrum desselben aus einer metrischen Periode, so heißt er Monometer, besteht es aus zwei, Dimeter, besteht es aus dreien, Trimeter, besteht er aus vieren, Tetrameter; wogegen die Perioden selbst nach der Zahl der Füße, woraus sie bestehen (Podien), entweder Monopodien, Dipodienod. Tripodien heißen. Die Verse werden entweder nach den in denselben vorherrschenden Füßen genannt, od. auch nach Dichtern, od. nach metrischen Eigenschaften, z.B. iambische, trochäische, daktylische etc. Verse; in bestimmten Fällen kann hier ein Fuß den andern vertreten, z.B. in den iambischen Versen ∪ – ◡_–, in den daktylischen – ◡ ◡_– ∪∪ etc. Unter den daktylischen Versen ist der älteste u. vollkommenste der Hexameter (s.d.), welcher aus sechs Füßen besteht; wenn er mit dem fünffüßigen Pentameter (s.d.) abwechselt, so bildet er mit demselben ein Distichon (s.d.). Weil so verbundene Verse gewöhnlich in den Elegien angewendet wurden, heißen sie das elegische Distichon. Pentameter allein sind erst von späteren lateinischen Dichtern angewendet worden. Der Anapästische Vers besteht aus Daktylen mit doppeltem Auftact u. arsischem Schluß. Die Trochäischen Verse erscheinen in mehren Formen, so in den Choliambischen Versen, wo statt des Jambus in dem letzten Fuß ein Trochäus eintritt; in dem Hip. ponaktischen Vers, dessen letzter Periode eine Sylbe fehlt (◡_– ∪ statt ◡_– ◡_–); in dem Anakreontischen Jambus, einem Senarius mit überzähliger Sylbe. Verse mit daktylischer Bewegung sind der Archilochische, der Alkmanische, der Adonische (s.d. a.) u.a. Durch den Übergang der daktylischen Bewegung in die trochäische entstehen die Logaödischen Verse (s.d.); wird aus der trochäischen in die daktylische übergegangen, so nennt man den Vers einen äolischen; kehrt die trochäische Bewegung am Schluß wieder aus der daktylischen in die trochäische zurück, so heißt der Vers äolisch-logaodisch; zu den letzteren gehören die Phaläkischen, die Sapphischen, die Al. kaischen, die Glykonischen, die Priapeischen (s.d. a.) u.a. Verbunden werden nicht allein Verse von gleichem Metrum, sondern auch von verschiedenem; in letzterem Fall entstehen Strophen (s.d.), wie in lyrischen Gedichten; auch verbinden sich Verse zu[232] ganzen metrischen Systemen, wie in den Chorgesängen der griechischen Tragödie, welche sich in Strophen, Antistrophen u. Epoden (s.d. a.) theilen Je nachdem nun ein Gedicht aus gleichen od. verschiedenen Versen zusammengesetzt ist, nennt man es Monokolon, wenn es aus Versen von einerlei Metrum besteht, wie die dramatischen Dialogen aus Jamben, die Epopöen u. didaktischen Gedichte aus Hexametern bestehend etc.; Dikolon, wenn die Verse zweierlei Metrum haben, wie die elegischen Gedichte, aus Hexameter u. Pentameter bestehend, u. lyrische Gedichte, in vielfachen Verbindungen; Dikolon Tetrastrophon, wenn eine Strophe aus vier Versen besteht, von denen aber die drei ersten Verse gleiches u. nur der letzte verschiedenes Metrum hat, wie in der Sapphischen u. ersten Asklepiadischen Ode (s. b.); Trikolon Tetrastrophon, wenn eine Strophe aus vier Versen besteht, von denen die zwei ersten gleiches, die zwei letzten jedes verschiedenes Metrum haben, wie in der zweiten Asklepiadischen u. der Alkaischen Ode (s. b.). Die antike Metrik gilt auch in der modernen P., in so fern die antiken Gedichtformen von den Dichtern verschiedener Nationen angenommen worden sind, namentlich von den Deutschen, unter diesen haben die größten Verdienste um die richtige Anwendung antiker Sylbenmaße Klopstock u. Voß. Die ältesten P-en sind von Aristoteles (s.d.) u. Horatius (Ars poëtica od. Brief an die Pisonen), dann schrieben darüber Scaliger, Poëtice, Leyd. 1681; Voß, De artis poëticae natura ac constitutione, Amsterd. 1647, u. Poëticae institutiones, ebd. 1647; Breitinger, Kritische Dichtkunst, Zür. 1740, 2 Bde.; Gottsched, Versuche einer kritischen Dichtkunst für Deutsche, Lpz. 1751; Engel, Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, Berl. 1683, n.A. 1804; Hermann, Handbuch der Metrik, Lpz. 1799; Desf. Elementa doctrinae metr., ebd. 1810; Desf., Epitome doctr. metr., ebd. 1818; Munk, Die Metrik der Griechen u. Römer, Glog. 1834; Hofmann, Metrik, Berl. 1835; Apel, Metrik, Lpz. 1814, 2 Bde., u. 1834; Voß, Zeitmessung der Deutschen Sprache, Königsb. 1802, 2. Aufl. 1834; Besseldt, Beiträge zur Prosodie u. Metrik der Deutschen u. Griechischen Sprache, Halle 1813; A. Bernh. Garve, Der deutsche Versbau, Berl. 1827; Carriere, Das Wesen u. die Formen der Poesie, Lpz. 1854.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 231-233.
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